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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0042
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22 Jenseits von Gut und Böse

JGB allerdings höhnisch ablehnend gegenüber: „Ich will Niemanden zur Philo-
sophie überreden: es ist nothwendig, es ist vielleicht auch wünschenswerth,
daß der Philosoph eine seltene Pflanze ist. Nichts ist mir widerlicher als die
lehrhafte Anpreisung der Philosophie, wie bei Seneca oder gar Cicero.“ (NL
1884, KSA 11, 26[452], 271, 1-5) In den Verdacht einer „lehrhaften Anpreisung
der Philosophie“ wird JGB zwar nicht geraten - dazu widerstrebt sein andeu-
tendes Sprechen viel zu sehr aller Lehrhaftigkeit -, dennoch aber will dieses
Werk eine neue Form von Philosophie - eine gesetzgebende, selbstbewusste,
lebenverändernde Philosophie - den Lesern nahebringen.
JGB ist der Protreptikos zu einer Philosophie der Zukunft. Er grenzt sich ab
von all den Protreptikoi der Philosophiegeschichte, die der moralischen Auf-
rüstung ihres Publikums dienen: „Philosophie hat wenig mit Tugend zu thun“
(NL 1884, KSA 11, 26[452], 271, 5), wie N. im Widerspruch zur philosophischen
Tradition notiert. Um das Ziel der Anwerbung zu erreichen, muss JGB eine
möglichst breite Blütenlese dessen bieten, was die neue, unvergleichliche Phi-
losophie der Zukunft ausmachen wird. „Inzwischen nämlich wird mein letzthin
herausgegebenes Jenseits4 die Aufmerksamkeit hinreichend auf meinen Na-
men lenken und dient insofern als ,Appetitmacher4 und Stomachicum für mei-
ne Art von Litteratur (- die nicht zur ,leichten4 gehört!)“ (N. an Fritzsch,
24. 09.1886, KSB 7/KGB III/3, Nr. 755, S. 256, Z. 20-24).
An welche Adressaten richtet sich dieser zukunftsphilosophische Protrepti-
kos und Appetithappen? Als JGB noch der zweite Band von M hätte sein sollen,
hieß es in einem Briefentwurf an Credner, Mitte Januar 1886: „ich würde sagen
es ist ein Buch für geistige Wagehalse und Feinschmecker; es ist sogar vom
Feinsten und Verwegensten daran. Trotzdem hat es nichts, was wie ein direkter
Angriff erscheint; ich gehöre nicht zu den Parteimenschen irgend welcher Art
welche durchaus »bekehren4 oder »umwerfen4 wollen.“ (KSB 7/KGB III/3,
Nr. 663, S. 141, Z. 26-31) Auch nach Erscheinen stellte N. das Werk als „schwer
verständlich“ hin, „voller Hintergedanken, eine fremde Denkweise vielleicht
mehr noch verbergend als verrathend: welchen Lesern kann ein solches Buch
billigerweise zugemuthet werden? Den Allerwenigsten jedenfalls, den wirkli-
chen Räthselrathern, den historischen »Zeichendeutern4“ (N. an Hippolyte Tai-
ne, 20. 09.1886, KSB 7/KGB III/3, Nr. 753, S. 253, Z. 12-17). N. richtete sich an
die Wenigsten, so scheint es, und strebte doch zugleich jeden möglichen Leser
als potentiellen Anhänger zu gewinnen. Er spielte damit, dass jeder zum exklu-
siven Kreis der „Allerwenigsten“ gehören will. Der Text von JGB zelebriert das
gleich eingangs, indem er ein Rollenspiel von Sphinx und Oedipus inszeniert
(JGB 1, KSA 5,15) und damit dem Leser nahelegt, in die Rolle des Rätsel-Stellers
und des Rätsel-Lösers gleichermaßen zu schlüpfen.
JGB ist mit anderen Worten nicht nur als protreptisches Werk im Hinblick
auf die erst angedeutete Philosophie der Zukunft konzipiert, sondern auch als
 
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