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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0043
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Überblickskommentar 23

temptatorisches Werk, das das zukunftsphilosophische Potential aus den jewei-
ligen Lesern herausreizen will (vgl. N. an Overbeck, 12.10.1886, KSB 7/KGBIII/
3, Nr. 761, S. 264 f., Z. 17-29). Es ist ein Werk, das die gewohnten Gewissheiten
in Versuchung führt und zur Disposition stellt: zunächst in fundamentalphilo-
sophischer Hinsicht (Hauptstück 1) und im Blick auf die Selbsteinschätzung
der Intellektuellen (Hauptstücke 2 und 6), sodann in religiöser Hinsicht
(Hauptstück 3), in moralphilosophischer (Hauptstücke 5 und 7) und schließlich
in politischer Hinsicht (Hauptstücke 8 und 9). Zugleich ist JGB aber auch ein
promissorisches Werk (ein prometheisches dem eigenen Anspruch nach viel-
leicht auch): Die Gedanken bleiben angedeutet, nichts wird zu Ende geführt.
JGB macht unentwegt Versprechungen - für die Zukunft, da das bisher Er-
brachte und Geleistete offenbar nicht gehört wird und nicht genügt, obwohl in
den Selbstzeugnissen jenseits von JGB der ständige Rückbezug auf das bereits
Geleistete vorherrscht, das als singuläre Leistung erscheinen soll (Za!). Dort
wird der promissorische Charakter dieses Werkes auch auf die Vergangenheit
bezogen: Wenn JGB als „Glossarium“ oder als „Commentar“ zu Za gedacht ist,
wird damit versprochen, dass das Werk ebenso für die Erschließung der Ver-
gangenheit, des schon Vollbrachten hilfreich, ja unentbehrlich sein werde. In
der Anlage der Kapitel lehnt sich JGB in der definitiven Gestalt wiederum an
MA I an, das ebenfalls aus neun Kapiteln mit ähnlichen Gesichtspunkten sowie
einem Schlussgedicht besteht, und greift damit tief zurück in die eigene
Denkvergangenheit, was Freunde wie Erwin Rohde abstieß und Overbeck be-
denklich stimmte: „Auch hat mich wenigstens das Buch [sc. JGB] nicht im ge-
ringsten weiter über die Ziele, die letzten Ein- und Absichten des Verfassers/
aufgeklärt, es ist mir überhaupt nach Zarathustra wie der reine Rückfall vorge-
kommen, was bei solchen Einsiedlerbüchern besonders bedenklich ist.“ (Over-
beck an Rohde, 23. 09.1886, Overbeck/Rohde 1990, 112). Der promissorische
Aspekt kommt aber gerade in der höchst unterschiedlichen Ausrichtung und
Anlehnung dieses Werkes zum Tragen, das zunächst als Fortsetzung von M
gedacht war, in der Struktur aber MA I imitiert, sodann Za entweder glossiert,
kommentiert oder konterkariert, und schließlich den Vorspann zu GM darstellt.
Damit wird versprochen, JGB enthalte eigentlich alles, was sich ausdenken
lässt - alles, wenngleich in noch unausgeführter Form.
Der protreptische, der temptatorische und der promissorische Charakter
von JGB helfen auch zu erklären, weshalb N.s sogenannte Hauptlehren in die-
ser Schrift scheinbar gar nicht oder doch nur auf Umwegen zur Sprache kom-
men. Man könnte vermuten, auch hier solle durch Verrätselung Interesse und
Ausgräberlust bei den auserwählten Lesern geweckt werden: Der „Wille zur
Macht“ wird beispielsweise in JGB 36 unter der Präambel des Als-ob („Gesetzt,
dass“) und im Irrealis („so hätte man damit sich das Recht verschafft“) präsen-
 
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