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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0044
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24 Jenseits von Gut und Böse

tiert (KSA 5, 54 f.) - nicht als ein Dogma, sondern als eine Versuchung, als
Mittel der philosophischen Selbstbevollmächtigung künftiger Philosophen, die
über die herkömmlichen freien Geister hinausgewachsen sein werden. Dazu
gesellen sich Provokation und Polemik als Mittel intellektueller Dynamisie-
rung: Beide destabilisieren vermeintliche Sicherheiten; sie wirken polemogen.
Denken ist (für N.) Streiten.
Den provokativ-polemogenen, protreptischen, temptatorischen und pro-
missorischen Charakter von JGB machen Schwerpunkte im Text deutlich. Es
ist kaum ein Zufall, dass N. im Ersten Hauptstück unter den Vorurteilen der
Philosophen nicht nur die idealistisch-metaphysischen, sondern ebenso die
materialistisch-atomistischen Vorurteile zersetzt. Der Begriff eines einfachen
Willens, der einer eindeutigen ontologischen Lehre vom Willen zur Macht doch
vorausliegen zu müssen scheint, wird in JGB 19 einer Fundamentalkritik unter-
zogen (KSA 5, 31-34): „Wollen scheint mir vor Allem etwas Complicirtes,
Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist“ (KSA 5, 32, 4f.). Demnach kann auch
der Wille zur Macht bloß als Wort eine Einheit sein. In der Metareflexion auf
das Geschäft der Philosophen arbeitet N. heraus, wie stark die Ausübung die-
ses Geschäftes an grammatische Strukturen gebunden ist (JGB 20, KSA 5, 34 f.):
Philosophen neigen dazu, Worte zu Dingen zu hypostasieren (JGB 21, KSA 5,
35 f.). Entsprechend gelten am Ende des Ersten Hauptstücks philologische (JGB
22, KSA 5, 37) und psychologische Methoden (JGB 23, KSA 38 f.) als Mittel der
Wahl, um die „Vorurtheile der Philosophen“ einzudämmen. Als „Herrin der
Wissenschaften“ (KSA 5, 39, 6) soll die Psychologie auch als Führerin auf dem
Gebiet der Moral und ihrer Kritik auftreten; der letzte Abschnitt bildet damit
den Übergang zum Zweiten Hauptstück über den freien Geist, verweist aber
zugleich auch schon voraus auf das Fünfte Hauptstück, das sich der „Naturge-
schichte der Moral“ widmet.
Das Zweite Hauptstück beginnt wie schon der erste Abschnitt des Ersten
Hauptstücks mit der Frage nach dem Willen zum Nicht-Wissen, zum Ungewis-
sen, Unwahren (KSA 5, 41). Dieser Wille zum Ungewissen (JGB 24), zur Unge-
wissheit (JGB 1), der sich in den Dienst einer skeptischen Verunsicherung stellt,
ist ein Movens, sogar ein Glutkern von JGB. Alles steht unter der Präambel der
Verunsicherung, die zugleich Verheißung und Versuchung ist. Eine Textstrate-
gie von JGB besteht wohl auch darin, diesem spezifischen Willen, dem Willen
zum Ungewissen zur Macht zu verhelfen, um damit eine Revolution der Den-
kungsart zu bewirken. Gerade der ontologische und herrenmoralische Dogma-
tismus, den manche Interpreten für die Quintessenz von JGB halten, stünde zu
dem in JGB herrschenden Willen zur Ungewissheit in äußerstem Gegensatz.
Soll den Philosophen dieser Wille zum Ungewissen eingepflanzt werden? Er ist
beispielsweise im schon erwähnten Abschnitt JGB 36 über den „Willen zur
 
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