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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0048
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28 Jenseits von Gut und Böse

unterschiedlichen Gründen, JGB für ein oder sogar das Hauptwerk N.s halten.
Für die einen liegt dessen Ertrag in den Erläuterungen für zentral befundener
philosophischer Lehrstücke wie des Willens zur Macht sowie im moralkriti-
schen Furor, für die anderen hingegen im Potential, solche Lehrstücke, und
zwar sowohl diejenigen der Denkgeschichte als auch diejenigen von N. selbst,
zu subvertieren.
Auch hier zeigt sich, wie stark das Werturteil von den Perspektiven abhän-
gig ist, aus denen heraus jemand auf das Werk schaut. Eine Qualität von JGB
liegt gerade darin, dass es in seiner Schonungslosigkeit eine erhebliche Hebel-
wirkung entfaltet, - dass es die Kraft hat, Selbstverständlichkeiten aus den
Angeln zu heben, kurz: die Perspektiven seiner Leser zu verändern. Das hängt
daran, dass N. nach Za sich selbst Perspektivenveränderung verordnet hat
(ohne dass er sich freilich, wie viele seiner Leser fälschlich meinen, zu einer
Lehre des „Perspektivismus“ bekannt hätte, vgl. NK 12, 23-26). JGB lässt sich
lesen als eine Selbstbefreiung N.s aus den Denk- und Sprechzwängen, die er
sich in Also sprach Zarathustra auferlegt hatte. In Za ließ N., obgleich stellen-
weise parodistisch, den Philosophen als Propheten auftreten und sich in Ver-
kündigung üben. Nicht nur die Zuhörer Zarathustras in diesem Werk, sondern
auch die Leser des Werkes erwiesen sich nach N.s Einschätzung als noch nicht
reif dafür, diese Verkündigung zu vernehmen. Demgegenüber kann JGB auch
auf jene Leser perspektivenverändernd wirken, die den Verkündigungen Zara-
thustras ebenso misstrauen wie N.s angeblichen Hauptlehren. Die Hebelwir-
kung von JGB scheint so berechnet, dass sie selbst für den Fall gegeben ist,
dass der jeweilige Leser keine einzige der plakativen Thesen teilt, mit denen
N. dem juste milieu seiner Zeit zu Leibe rückte: Perspektivenverunsicherung
kann allein schon durch die Vehemenz erreicht werden, mit der N. seine welt-
anschauliche Dissidenz vortrug.
Als „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ versucht JGB im Kern zu ver-
ändern, was Philosophie überhaupt ausmacht. Philosophie hatte bei N. längst
aufgehört, eine akademische Veranstaltung zu sein. In Za erprobte er die Reich-
weite und Grenzen einer prophetisch auftretenden Philosophie, die ihre Welt-
veränderungsabsicht mit messianischem Sendungsbewusstsein paarte - wie
immer man sich zur Frage stellt, ob beim bibelaffinen Sprechen in diesem Werk
auch ein parodierender Ironiker die Feder führt, wenigstens im Nebengeschäft.
Eine prophetisch auftretende Philosophie wirkt auf manche abgeschmackt, ih-
nen kommt ein messianisches Selbstbewusstsein der Philosophie abgestanden
und schal vor. Und genau auf derart kritische Za-Leser wirkt JGB erleichternd,
befreiend, findet N.s Philosophie in diesem Buch doch wieder einen anderen
Ton - einen derart anderen Ton, dass von ihrem kritischen Furor Zarathustras
philosophisch-prophetischer Messianismus nicht unberührt bleibt (zur Wir-
 
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