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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0054
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34 Jenseits von Gut und Böse

wohin regelloses philosophisches Phantasieren führe, nämlich schnurstracks
in den Wahnsinn. JGB ist nach Schacht bereits ein Zeugnis dieses Wahnsinns.
Karl Barth hingegen schien sich von einem solchem Verdacht nicht anfechten
zu lassen, als er am 14. 06.1920 an Eduard Thurneysen schrieb: „Ich war die
ganze letzte Woche an Nietzsche’s Anfängen, die wohl besser waren als das
Spätere. In der ,Geburt der Tragödie4 ist viel Gutes. Jenseits von Gut und Böse4
aus seiner letzten Zeit sah mich bei viel Trefflichem doch etwas starr und schon
verholzt an. Wahrscheinlich wollte auch er etwas, was man eben nicht wollen
sollte. Overbeck war einsichtiger. Aber ein guter Kämpfer, den wir gelegentlich
zu Ehren ziehen müssen, war er doch.44 (Zitiert nach Kr III, 44).
Dass sich von N.s Werk Jenseits von Gut und Böse vor allem der provozie-
rende Titel ins kollektive Gedächtnis eingrub, zeigt sich exemplarisch beim
früheren Rezensenten des Werkes im Bund: 1893 veröffentlichte Josef Viktor
Widmann ein Drama ebenfalls unter dem Titel Jenseits von Gut und Böse. Es
schildert die Läuterung eines Kunstgeschichtsprofessors, der sich unter dem
Eindruck der erträumten Gräueltaten von Sigismondo Malatesta vom Nietz-
scheschen Immoralisten zum moralisch gefestigten Verantwortungsethiker
wandelt (Widmann 1893). Zwar geht es in Widmanns Stück nicht explizit um
N., aber doch um die von diesem gedankenexperimentell erprobte Verabschie-
dung der herkömmlichen Moral. An Henriette Feuerbach schrieb Widmann
schon am 21. Mai 1891 über das geplante Stück ausdrücklich: „Es ist gegen
Nietzsches Philosophie gerichtet“ (Kr I, 262). In einer Theaterkritik beklagte
Rudolf Steiner 1894 die grobe Vereinseitigung von N.s Denken, die sich Wid-
mann mit seiner plakativen Titelwahl habe zuschulden kommen lassen - und
überdies gehöre Widmanns Protagonist keineswegs zu den Starken, denen N.
die Verfügungsgewalt über moralische Maßstäbe zuerkenne (Steiner 2004, 29,
197).
N.s Titel „Jenseits von Gut und Böse“ hat sich schon früh als Schlagwort
in der Populärkultur verselbständigt: Paul Heyse verlautbarte in seinem Schau-
spiel Wahrheit? ganz selbstverständlich, es gebe „Naturprocesse, die jenseits
von Gut und Böse liegen, über die der sittliche Wille keine Gewalt hat“ (Heyse
1892, 46). Die Applikabilität des Schlagwortes ist anhaltend: Gottfried Benn
notierte im zweiten Satz seiner Prosaskizze Heinrich Mann. Ein Untergang von
1913 gehässig: „Jenseits von Gut und Böse - dummes Literatenwort.44 (Benn
1968, 5, 1181) In den 1920er Jahren erfreute sich ein Roman dieses Titels von
Luise Westkirch bei Reclam mehrerer Auflagen (Westkirch o.J. [1924]); 2011
brachte der Rapper Bushido ein so betiteltes Song-Album auf den Markt, und
Michael Schmidt-Salomon stellte ein Bekenntnis zum philosophischen Evoluti-
onismus unter dieses Label, notabene „in memoriam Friedrich Nietzsche“
(Schmidt-Salomon 2012, 5), ohne dass N. dabei freilich mehr als bloßer Stich-
wortgeber wäre.
 
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