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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0056
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36 Jenseits von Gut und Böse

phie im allgemeinen bedeutungslos ist, wird kaum einem Widerspruche begeg-
nen“ (ebd., 43).
Was aber für die „Geschichte der Philosophie im allgemeinen“ gelte, muss
nicht unbedingt „auch für die Geschichte der Ethik“ im Besonderen gelten.
Deshalb befragt Hartmann N.s angebliches Hauptwerk, nämlich JGB, nach sei-
nem ethischen Gehalt: Die Grundtendenz von N.s Philosophie erscheint mithin
als eine moralische; was er an „metaphysischem Willensrealismus“ (Hartmann
1898, 38) zu bieten habe, sei im Grunde nicht der Rede wert. N. huldige „dem
Grundsatz: Nichts ist wahr, alles ist erlaubt“ (ebd., 35); er verfechte einen über-
spannten Aristokratismus und Antidemokratismus und kämpfe gegen die „He-
teronomie“ (ebd., 42), ohne sich jedoch explizit zu einer Autonomie-Moral be-
kennen zu wollen. N. mache den Tyrannen zum Idealbild. „Das Individuum ist
souverän, keinem Gesetz unterworfen als dem der Maximation seiner eigenen
Souveränität und zu keiner Ehrfurcht verpflichtet als zu der vor sich selbst.“
(Ebd., 60) Bei Lichte besehen handle es sich bei N.s Ansatz um nichts weiter
als eine uneingestandene Adaption und Vergröberung von Max Stirners Solip-
sismus (vgl. ebd., 60 f., dazu Laska 2002 u. allgemein Stephan 2015). Was den
„positiven Gedankenkern“ angehe, so sei der „sehr arm und eng“ (Hartmann
1898, 35 f.). „Die Armut seines Gedankengehalts wäre in einer methodischen
und systematischen Darstellung sofort zu Tage getreten und konnte sich nur
hinter einer aphoristischen Geistreichelei verbergen, die immer wie die Katze
um den heissen Brei herumgeht und dabei zierliche oder groteske Sprünge
macht.“ (Ebd., 36).
Hartmanns Auseinandersetzung mit JGB ist nicht so sehr wegen der per-
sönlichen Rivalität der beiden Philosophen aufschlussreich, sondern weil sie
erstens zeigt, dass JGB früh als Hauptwerk N.s wahrgenommen worden ist (von
GM beispielsweise ist bei Hartmann kaum die Rede). Zweitens wird der Gehalt
dieses Werkes, ganz der Suggestion des Titels gemäß, auf das „Moralische“
oder Immoralistische reduziert. N. erscheint als spätpubertierender Rebell ge-
gen die herrschende, wohlerprobte Sittlichkeit. „Jeder Schulknabe kann sich
nun nach Nietzsches Anleitung zum Ȇbermenschen4 ausbilden, indem er die
Moral als überwundenen Standpunkt verhöhnt, seine besseren Instinkte mit
Füssen tritt, sich ungeniert den brutalen Trieben seiner schlechteren Natur hin-
giebt und ein etwaiges Manko in ihrer Stärke durch prahlerische Übertreibung
im Gebahren und Thun zu ersetzen sucht.“ (Hartmann 1898, 62) Drittens fehlen
dem akademischen Philosophen Hartmann die begrifflichen Werkzeuge, um
mit N.s eigentümlicher Art des Philosophierens umgehen zu können. Daher
führt er dieses Philosophieren auf die eingeschliffenen Begrifflichkeiten von
Schopenhauer und Stirner zurück. Viertens fällt auf, dass Hartmann noch nicht
versucht, N.s Denken und insbesondere JGB mit N.s eigenen begrifflichen Prä-
 
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