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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0061
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II Stellenkommentar

Der Titel
9, 1 Jenseits von Gut und Böse] Eine erste Nachlassnotiz N.s, in welcher der
später sprichwörtlich werdende Haupttitel des Werkes anklingt, stammt vom
Herbst 1881 und ist auf die letzte freie Seite seines Exemplars von Ralph Waldo
Emersons Versuchen in der Fabricius-Übersetzung von 1858 gekritzelt: „jenseits
von Liebe und Haß, auch von Gut und Böse, ein Betrüger mit gutem Gewissen,
grausam bis zur Selbstverstümmlung, unentdeckt und vor aller Augen, ein Ver-
sucher, der vom Blut fremder Seelen lebt, der die Tugend als ein Experiment
liebt, wie das Laster“ (NL 1881, KSA 9,13[21], 622, 9-13). In der Forschung pflegt
man diese Überlegung auf einen Passus in Emersons Essay Kreise zu beziehen,
wo es u. a. heißt: „Eines Menschen Gerechtigkeit ist eines Andern Ungerechtig-
keit“ (Emerson 1858, 232) und „Es giebt keine Tugend, von der das Ende sicht-
bar wäre; alle sind sie im Anfänge begriffen. Die Tugenden der Gesellschaft
sind Laster für den Heiligen. Der Schrecken, welchen eine Reform verursacht,
ist nichts anderes als die Entdeckung, von unserer Seite, daß wir unsere Tugen-
den, oder das, was wir immer für solche gehalten haben, in denselben Ab-
grund versenken müssen, der schon unsere größeren Laster aufgenommen hat.
[...] Die höchste Macht üben göttliche Augenblicke auf uns aus, wenn sie uns
unsere Zerknirschungen ebenfalls verdammen lassen. Ich klage mich Tag für
Tag der Trägheit und Nutzlosigkeit an, aber wenn mir diese göttliche Einströ-
mung zu Theil wird, so weiß ich von keiner verlornen Zeit mehr.“ (Emerson
1858, 233. N.s Unterstreichungen, zahlreiche Randstriche von seiner Hand. Zu
den Nachweisen siehe Zavatta 2006, 295; vgl. ferner Baumgarten 1957,16; Hub-
bard 1958,127 sowie Brusotti 1997, 483 u. Golden 2013.) Der Immoralismus, der
aus Emersons Text zu sprechen scheint, hat N. schon früh fasziniert; dass sich
aus der Beschäftigung mit jenem die Formel ablöste, die schließlich dem Buch
von 1886 den Titel geben sollte, ist dabei nur konsequent.
In der Retraktation von Ecce homo wird die Paradies- und Schlangenge-
schichte aus Genesis 3 als hermeneutische Folie für JGB herangezogen (vgl.
oben NK ÜK JGB, Abschnitt 2 u. EH JGB 2, KSA 6, 351, 16-27). Nach dem bibli-
schen Bericht hatte das Urelternpaar, bevor es der Versuchung verfiel, um Gut
und Böse nicht gewusst, also noch diesseits von Gut und Böse gelebt. Der Titel
von JGB lässt sich vor dem Hintergrund der Genesis auch als (messianisches)
Versprechen deuten, nach der allzulangen Herrschaft der Moral eine neue mo-
ralische Unschuld, diesmal jenseits von Gut und Böse heraufzuführen. Das
passt zu einer Sentenz in NL 1882, KSA 10, 3[1]135, 69, 16f.: „,Die Moral selber
war der erste Sündenfall: die Moral selber ist die Erbsünde4 so denkt jeder
 
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