Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0063
Lizenz: In Copyright
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar JGB Titel, KSA 5, S. 9 43

sich bringt, vermeidet der Buchtitel. JGB positioniert sich als Buch jenseits aller
festen Formen von „Gut und Böse“.
Vor N. lässt sich die Wendung „Jenseits von Gut und Böse“ nicht nachwei-
sen. Das französische Pendant mit bestimmtem Artikel „Au delä du bien et
du mal“ kommt ganz sporadisch auch früher vor, nicht aber in Texten, deren
Bekanntschaft für N. belegt wäre (so in einem Beitrag der Nouvelle Bibliotheque
des Romans über Robert Bloomfield: „il etend ses regards au-delä du bien et
du mal present“. [Anonym] 1805, 96 - „er dehnt seine Blicke über das Gute
und Böse der Gegenwart hinaus“). Dass in der englischen, von William Hoey
verantworteten Übersetzung des N. im deutschen Original wohlbekannten
Buddha-Buches von Hermann Oldenberg die für die späteren englischen JGB-
Übersetzungen verwendete Titelformulierung „beyond good and evil“ (Olden-
berg 1882, 49) auftaucht, ist trotz der zeitlichen Koinzidenz kein Hinweis auf
eine Quelle N.s: Im Original, das N. gelesen hat, lautet die fragliche Stelle:
„lieber Beides geht er [sc. der ewige Ätman] hinaus, der Unsterbliche, über
Gutes und Böses; Gethanes und Ungethanes schafft ihm keinen Schmerz; sein
Reich leidet durch keine That.“ (Oldenberg 1881, 50) Auch eine Anspielung auf
Platons berühmtes „ehekeivu Tf[<; oüoiac;“ („jenseits des Seins“, Politeia 509b9)
dürfte von N. höchstens sekundär intendiert sein.
Eher ließe sich hinter der Emphase, die der JGB-Titel auf die Präposition
„jenseits“ legt, eine ironische Anspielung auf den Ultramontanismus vermu-
ten, also auf „diejenige Auffassung des Katholizismus, welche dessen ganzen
Schwerpunkt nach Rom, also jenseits der Berge (ultra montes), verlegen möch-
te“ (Meyer 1885-1892,15, 987). N. stand die gesellschaftspolitische Problematik
eines Katholizismus deutlich vor Augen, dem im preußischen Kulturkampf vor-
geworfen wurde, sich statt an den deutschen Autoritäten Kaiser und Reichs-
kanzler jenseits des Reichs, eben am Papst in Rom zu orientieren (vgl. z. B.
MA II VM 171, KSA 2, 452, 2; NL 1878, KSA 8, 30[9], 523, 9 u. NL 1874, KSA 7,
32[67], 778, 10). In seinen letzten bewussten Jahren verstand N. sein eigenes
Schaffen als persönlichen Kulturkampf gegen Bismarck und dessen pseudo-
christliches Reich - in einem Briefentwurf an Helen Zimmern heißt es bei-
spielsweise am 08.12.1888 über den Antichrist: „Das Buch schlägt das Chris-
tenthum todt, und außerdem auch noch Bismarck ...“ (KSB 8/KGB III/5,
Nr. 1180, S. 512, Z. 38 f.; zu den Invektiven gegen Bismarck vgl. NK KSA 6, 104,
4-8 u. NK KSA 6, 211, 2-5). N. verortet sich selbst wie die von ihm genauso
geringgeschätzten Katholiken in einem Jenseits des hier und jetzt Gültigen,
aber eben nicht jenseits der Berge, sondern jenseits von Gut und Böse: Für ihn
steht im eigentlichen Kulturkampf die abendländische Wertorientierung, das
bei Katholiken und Protestanten gleichermaßen geltende Gute und Böse zur
Disposition. Vor diesem großen Kulturkampf verblasst aus N.s Sicht die Wahl
zwischen Prussianismus und Papalismus.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften