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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0068
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48 Jenseits von Gut und Böse

eine Innovation N.s. Sie hat - abgeleitet vom Topos der „nuda veritas“ (Horaz:
Carmina I 24, 7) - ihren epigrammatischen Ausdruck in einem barocken Sinn-
gedicht Friedrich von Logaus gefunden (Deutscher Sinn-Getichte Drey Tausend:
Erstes Tausend, Drittes Hundert, Nr. 12): „Blosse Warheit. / Die Warheit ist
ein Weib das zwar kein Laster kennt / Doch / weil sie nackt und bloß / so
wird sie so sehr geschändt.“ (Logau 1654, 53) Das (Wunsch-)Bild der nackten
Wahrheit reicht in die Antike zurück (vgl. Konersmann 2004); Logau und spä-
ter N. nehmen diese metaphorische Sprechweise beim Wort und assoziieren
sie mit sexueller Gewalt. Bei Logau und in Anthologien, die ihn paraphrasieren
(z. B. Schütz 1806, 1, 87), ist das Weib Wahrheit in der reinen Opferrolle. Aber
schon vor N. ist sie nicht immer nur Gegenstand männlicher Übergriffe, son-
dern kann auch den aktiven Part übernehmen: „Die Wahrheit ist ein Weib.
Wen sie am Gängelbande führt, der muss sich zu gar seltsamen Sprüngen be-
quemen; wem es gelingt sie mit kräftigem Arm zu erfassen, ihm ergiebt sie sich
willig und leicht.“ (Gumpach 1860, 1, 21) Die Vorrede von JGB interpretiert das
Trachten nach Wahrheit unter Zuhilfenahme des metaphorischen Horizontes
von Logaus Sinngedicht nicht mehr als einseitige Aktivität der männlichen
Wahrheitssucher, der eine passive Hingebungsbereitschaft des Weibes Wahr-
heit gegenübersteht, sondern postuliert ein „game of seduction“ (Tongeren
2000,131), bei dem die Rollen nicht länger einseitig verteilt sind. In der Vorrede
zur zweiten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung hatte Schopenhauer be-
reits vermerkt: „Die Wahrheit ist keine Hure, die sich Denen an den Hals wirft,
welche ihrer nicht begehren: vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst
wer ihr Alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiß seyn darf.“ (Schopenhauer
1873-1874, 2, XVIII) N. modelliert - unter der Kautele „Vorausgesetzt, dass ...“
und damit im Konditionalis - die philosophische Tätigkeit in Analogie zum
Geschlechterverhältnis von Mann und Frau als ein Spiel von Verführung und
Verführt-Werden. Das impliziert einen neuen Philosophie-Begriff, der für JGB
insgesamt leitmotivisch wird: Philosophen (der Zukunft) suchen nicht länger
als neutrale Beobachter nach einer neutralen Wahrheit, sondern sind, im Un-
terschied zu den „Dogmatikern“ (vgl. KSA 5, 11, 2-4), als Personen ganz und
gar in Mitleidenschaft gezogen, wenn sie um die und mit der Wahrheit ringen.
Wahrheit ist dabei nichts einfach Erkennbares, sondern etwas, das in diesem
Spiel erst entsteht - ebenso wie die involvierten Philosophen erst in diesem
Spiel das werden, was sie sind. Dabei bleiben Wahrheitswerdung und Selbst-
werdung stets vorläufig.
In FW Vorrede 4, KSA 3, 352 nimmt N. das Motiv von der Wahrheit als
Weib auf und verbindet es mythologisierend mit der ihre Scham entblößenden
Baubo, vgl. dazu NK KSA 6, 439, 8 f.; Pieper 2014,17 f. u. ausführlich Kaufmann
2016. Zur sprachlichen Struktur von 11, 2 vgl. Sonderegger 1973, 15, zur Inter-
 
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