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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0069
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Stellenkommentar JGB Vorrede, KSA 5, S. 11 49

pretation z. B. Derrida 1978; Behler 1988,120 f.; Tongeren 1989, 219; Grau 2004,
39 f.; Thorgeirsdöttir 1996,159-162 u. Behler 2006, 160. Auch ein früher Rezen-
sent von JGB mit dem Kürzel mk in Nord und Süd vom Mai 1887 macht am
Eingangssatz die divergenten Reaktions- und Rezeptionsmuster deutlich: „Die
Form und der Inhalt [von JGB] fesselt den Leser und reizt theils zum Protest,
theils zum Beifall. Sogleich der erste Satz der Vorrede charaktirisirt es in beider
Hinsicht.“ (Zitiert nach Reich 2013, 648). Welches Erregungs- und Empörungs-
potential die Gleichsetzung von Wissenschaft und Kurtisane (im übrigens nur
impliziten Anschluss an JGB Vorrede) gegenwärtig noch besitzt, dokumentiert
Feyerabend 1997, 201-203.
11, 2-4 —, wie? ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern
sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden?] Der Gedanken-
strich nach der Eingangshypothese und das darauffolgende „wie“ war man-
chen Interpreten Anlass, den Anfang der Vorrede von JGB so auszulegen, als
stelle N. sich selber hier als hochgradig aufgeschreckt („startled“) durch das
dar, was er gerade gesagt habe. „The implication that Nietzsche pretends to be
startled by is that he now has a new way of viewing dogmatic philosophers
and making fun of them“ (Clark/Dudrick 2012,14, vgl. Burnham 2007, 2). Inter-
essanter und viel weniger beachtet ist demgegenüber der Plural: Zunächst ist
nicht mehr vom einen „Weib“ Wahrheit die Rede, sondern von „Weibern“ in
der Mehrzahl und ohne Artikel; in 11, 7 dann von ,,ein[em] Frauenzimmer“ mit
unbestimmtem Artikel: All dies indiziert ganz gegen das traditionelle philoso-
phische Selbstverständnis, dass „Philosophen“ außer um die Wahrheit auch
um andere „Weiber“ buhlen oder, wenn man die Metapher übersetzen will,
sehr wohl andere leitende Überzeugungen und Interessen hatten und haben
als die Wahrheit, die sie offiziell als einzige Göttin verehren - vielleicht die
Eitelkeit, die Ruhmbegierde oder die Macht. Die Vorrede von JGB bestreitet
nicht einfach, dass sich „Dogmatiker“ auf die Wahrheit verstehen - so dass
dann im Gegenzug nach dem bewährten Muster philosophischer Polemik N.
selbst als erster Verkünder der reinen Wahrheit in Erscheinung treten könnte -,
sondern spricht ihnen überhaupt ab, sich auf - metaphorisch gemeinte? -
„Weiber“ zu verstehen. Die „Philosophen“ qua „Dogmatiker“ erscheinen damit
als tumbe Toren, als graubärtige, verschrobene Gelehrte, denen intellektuelle
Verführungskraft vollständig abgeht. Deshalb bleiben sie - das ist die von der
Metapher erzwungene Denkrichtung - prinzipiell unfruchtbar und damit ohne
Nachwuchs. Dieser Befund ist wiederum nicht leicht zu verbinden mit der im
Fortgang der Vorrede aufgefächerten Erfolgsgeschichte der dogmatischen Phi-
losophie, die es offenbar seit Platon verstanden hat, das Geschick des Abend-
landes zu bestimmen, also Nachwuchs und Nachfolger in großer Zahl zu zeu-
gen. Als erklärende, über N.s explizite Äußerungen hinausgehende Zusatzan-
 
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