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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0073
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Stellenkommentar JGB Vorrede, KSA 5, S. 11 53

kern“ die Rede, die um das „Weib“ Wahrheit werben, jetzt stehen plötzlich
ganze „Philosophen-Bauwerke“ - man wird sich dabei die großen Denksyste-
me als architekturanaloge Konstrukte vorstellen - vor den Augen der Leser.
Dieser Bruch hängt damit zusammen, dass N. hier unterschiedliche Vorlagen
kombiniert. Die mit Zeile KSA 5,11,13 beginnende Passage geht zurück auf das
von N. Louise Röder-Wiederhold in Dns Mp XVI, BL 27r Diktierte; unmittelbar
voran gehen dort Überlegungen zur Guyau-, Spencer- und Rolph-Lektüre und
nichts zu Weib und Wahrheit (Röllin 2012, 203 f.). Später hingegen werden die
beiden ursprünglich unverbundenen Teile in Dns Mp XVI, BL 42r (ebd., 216 f.)
miteinander verquickt. Der Rekurs auf den „Aberglauben“ fehlt in Dns Mp XVI,
Bl. 27r und in Dns Mp XVI, BL 42r noch; stattdessen wird direkt das „Wortspiel“
als möglicher „Grundstein“ ins Gespräch gebracht. Die Einfügung des „Aber-
glaubens“ hat sowohl eine ordnende als auch eine ironisierende Funktion:
Ordnend, insofern sie die in der Klammer genannten Formen des Aberglaubens
sowie die nachfolgenden Stichworte „Wortspiel“, „Verführung von Seiten der
Grammatik“, „Verallgemeinerung von [...] menschlich-allzumenschlichen That-
sachen“ unter einem Oberbegriff zusammenzufassen scheint, ohne dass ur-
sprünglich ein solcher Oberbegriff intendiert gewesen wäre. Ironisierend, inso-
fern sich die Philosophie seit der Antike und erst recht seit der Aufklärung als
geborene Gegnerin aller Formen von populärem Aberglauben verstand und
jetzt selbst nicht nur bezichtigt wird, abergläubisches Beiwerk mit sich herum-
zuschleppen, sondern sogar auf Aberglauben zu gründen.
Was genau den „Grundstein“ der dogmatischen „Philosophen-Bauwerke“
abgegeben hat, wird nur angedeutet, nicht aber eindeutig bestimmt: mit dem
doppelten „irgend ein“ (11, 20 u. 11, 23) sowie dem „vielleicht“ wird einer letz-
ten Bestimmung gerade ausgewichen. Der in Frage kommende „Volks-Aber-
glaube“ ist zunächst durch sein Alter gekennzeichnet, sodann in der Parenthe-
se mit einem Beispiel („wie der“) illustriert, ohne dass damit behauptet wird,
es sei im Fundament der Philosophie just dieser Aberglaube einzementiert.
„Seelen-Aberglaube“ heißt dieses Beispiel: Er habe bis in die Gegenwart seine
Fortsetzung im „Subjekt- und Ich-Aberglauben“ gefunden. Inwiefern es Illusi-
on sei, an ein „Ich“ als den Herrn und Produzenten von Gedanken zu glauben,
erörtern ausführlicher JGB 16 und 17, wobei dort sowohl von dem die Rede ist,
was „das Volk glauben“ mag (KSA 5, 29, 28) als auch von den „Abergläubi-
schen“ (KSA 5, 31,1). In der Vorrede wird noch nicht konkretisiert, worin dieser
Aberglaube genau besteht. Man darf vermuten: zunächst im (urtümlichen?)
Glauben an die Existenz einer vom Körper unabhängigen Seele, sodann in des-
sen philosophisch elaborierter Fortsetzung, nämlich im Glauben an ein den-
kendes und deswegen für sich seiendes Subjekt (Descartes) oder im Glauben
an ein transdenzentales Ich (Kant). In Maximilian Drossbachs Buch Über die
 
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