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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0082
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62 Jenseits von Gut und Böse

Variante einer wiederholten Aufforderung Jesu an die Adresse seiner Jünger in
eschatologischer Bedrängnis: „wachet und betet; denn ihr wisset nicht, wenn
es Zeit ist. [...] So wachet nun, denn ihr wisset nicht, wenn der Herr des Hauses
kommt, ob er kommt am Abend, oder zu Mitternacht, oder um den Hahnen-
schrey, oder des Morgens.“ (Markus 13, 33-35. Die Bibel: Neues Testament 1818,
60. Vgl. Matthäus 24, 42 u. 25, 13).
Aber schon Platon hat eine Vorliebe für die Metaphorik von Schlafen und
Wachen; er behält in Politeia 476d die wahre Erkenntnis der Dinge demjenigen
vor, der sich im Zustand des Wachens befindet (ünap). N.s Text usurpiert also
eine Metaphorik, die sowohl in der dogmatischen Philosophie als auch in der
dogmatischen (christlichen) Religion - dem „Platonismus für’s ,Volk“‘ (KSA 5,
12, 33 f.) - als Umschreibung für den höchsten Zustand des Erkennens hoch im
Kurs stand und reklamiert sie gerade für eine Sicht, welche die angeblichen Er-
kenntnisse dogmatischen Denkens als Traumprodukte des Tiefschlafs entlarvt
(vgl. auch Schopenhauer in GT18, KSA 1,118,25 f.). Bemerkenswert ist, dass Gus-
tav Teichmüller in seinem Werk Die wirkliche und die scheinbare Welt (vgl. NK12,
23-26), aus dem N. wichtige Anregungen für sein perspektivisches Denken be-
zog, nicht nur die Metaphorik des Wachseins aus dem christlichen Kontext auf-
greift, sondern sich zum Anwalt dreier Mächte macht, die nach der Vorrede von
JGB eingedämmt werden sollen: des Christentums, der nicht-perspektivischen
Weltbetrachtung und des Ich: „Nur das Christenthum verliess den Pfad der
perspectivischen Weltbetrachtung und rief uns zum Wachen, indem es die Per-
son, das Ich zur Geltung brachte“ (Teichmüller 1882, 348, vgl. die Fortsetzung
des Zitats, mitgeteilt in NK 23, 21-27). Bei N. ist gerade dieses Ich ein Traumge-
spinnst. Zur Begriffsgeschichte der Wachheit siehe auch Hutter 2004.
12, 23-26 Es hiess allerdings die Wahrheit auf den Kopf stellen und das Per-
spektivische, die Grundbedingung alles Lebens, selber verleugnen, so vom
Geiste und vom Guten zu reden, wie Plato gethan hat] Die Aufzeichnung KGW
IX 1, N VII 1, 105, 29 sowie das Diktat Dns Mp XVI, Bl. 42r von 1885 bestimmen
„das Perspectivische“ als „das Grundelement alles Lebens“ (Röllin 2012, 217).
Bekanntlich wird „der Perspektivismus“, die Behauptung der unhintergehba-
ren Perspektivengebundenheit alles Erkennens, gemeinhin als eine der Haupt-
einsichten N.s begriffen, ohne dass sich die Forschung darüber einig wäre, wie
er genau zu verstehen wäre (vgl. die Übersichten von Jakob Dellinger in NLex
266 f. u. von Claus Zittel in NH 299-301). Als Ismus kommt „Perspektivismus“
in N.s Werken freilich nur ein einziges Mal vor, und da erst noch in einer deu-
tungsbedürftigen Paarung mit „Phänomenalismus“ (FW 354, KSA 3, 593, 3), so
dass sich fragen ließe, ob nicht auch bei der Festlegung N.s auf „den Perspekti-
vismus“ als Lehre der philosophiehistorische Wunsch nach nach Ordnung und
weniger N.s Selbstverständnis Pate gestanden hat (vgl. Dellinger 2015, III u.
 
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