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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0081
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Stellenkommentar JGB Vorrede, KSA 5, S. 12 61

21) gar nicht mehr ein - ein knapper Hinweis auf die Perspektivität reicht als
Argument völlig aus (vgl. NK 12, 23-26) denn einen Aberglauben widerlegt
man nicht. „Aberglaube: an das Seiende zu glauben, an das Unbedingte, an
den reinen Geist, an die absolute Erkenntniß, an den absoluten Werth, an das
Ding an sich! In diesen Ansätzen steckt überall eine contradictio“ (NL 1885,
KSA 11, 34[28], 429, 23-26, entspricht KGW IX 1, N VII 1, 175, 2-14).
Die zentrale Bedeutung, die die Vorrede zu JGB Platon und dem Platonis-
mus einräumt, dürfte mit N.s intensiver Lektüre von Gustav Teichmüllers Die
wirkliche und die scheinbare Welt Zusammenhängen. Teichmüller sieht trotz
Kant die Philosophie bis in die Gegenwart bestimmt von Platons (verderbli-
chen) Vorgaben: „Es zeigte sich nun, dass keiner der Neueren über das
Ziel hinausgekommen ist, das von Plato im Parmenides auf-
gestellt war“ (Teichmüller 1882, XI). Teichmüller gibt sich Platon gegen-
über ebenso reserviert wie N., der in seinem Brief an Overbeck vom 22.10.1883
wiederum aus der Lektüre von Teichmüllers Werk die Erkenntnis schöpft, „wie
wenig ich Plato kenne und wie sehr Zarathustra nXaTwvi^Ei“ (KSB 6/KGBIII/
1, Nr. 469, S. 448, Z. 3f.). Letzteres ist wohl selbstkritisch gemeint.
12,18-23 Aber nunmehr, wo er überwunden ist, wo Europa von diesem Alpdrü-
cke aufathmet und zum Mindesten eines gesunderen — Schlafs geniessen darf,
sind wir, deren Aufgabe das Wachsein selbst ist, die Erben von all
der Kraft, welche der Kampf gegen diesen Irrthum grossgezüchtet hat.] Europa
liegt also nicht mehr, wie Kant es für sich selbst vor seiner kritischen Wendung
beschrieb, im „dogmatischen Schlummer“ (AAIV, 260, vgl. NK 142, 4), sondern
im postdogmatischen Schlummer, offenbar aus Erschöpfung - entweder we-
gen der so lange dominanten dogmatischen Philosophie oder wegen des
Kampfes gegen diese Philosophie. Dem gegenüber steht das „Wir“, das sich
jetzt, nachdem es in 12, 14 seine Dankbarkeit bekundet hatte, erstmals selbst
charakterisiert, nämlich als „Erben“ nicht der Dogmatik, sondern der aus dem
Kampf gegen die Dogmatik geschöpften Kraft. Der gesperrt gesetzte Einschub,
der das „Wir“ zur Schlaftrunkenheit der Gegenwart wirkungsvoll in Szene setzt,
fehlt noch in der diktierten Fassung vom Sommer 1885 (Dns Mp XVI, BL 42r =
Röllin 2012, 217). Der Einschub behauptet freilich nicht, dass das „Wir“ immer
schon wach sei, sondern Wachen seine Aufgabe sei (zum Wachsein in der Ge-
genwart siehe FW 59, KSA 3, 423, 24-26). Auch FW Vorrede 2 spielt mit der
Erwartung, die vielleicht an alle (philosophischen) »Nachtwächter4 zu adressie-
ren wäre, nämlich „dass der entscheidende Augenblick uns wach finden wird“
(KSA 3, 347, 30 f.). Die Metapher macht die Frage unabweisbar, ob die Aufgabe
des „Wir“ darin besteht, die Schlafenden zu wecken oder aber ihren Schlaf zu
hüten. Versteht man das „Wachsein“ als Aufforderung an die mit dem „Wir“
zumindest partiell vereinnahmten Leser, handelt es sich um die säkularisierte
 
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