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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0080
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60 Jenseits von Gut und Böse

2012, 217), Vorarbeiten in KGW IX 1, N VII 1, 105. Die Paarung von „Gutem an
sich“ und „reinem Geiste“ fehlt beispielweise in NL 1885, KSA 11, 42[6], 696
(vgl. NK 11, 2-4), wo Platon und sein „reiner Geist“ auch „die Dogmatiker“
repräsentieren sowie die durch diese erzeugte, „prachtvolle Spannung“ in der
Geschichte. Dass der Leser beim „Guten an sich“ an Platons Ideenlehre und
insbesondere an seine höchste Idee des Guten denken werde, dürfte für N.
selbstverständlich gewesen sein (Grundunterscheidungen dazu konnte er bei-
spielsweise bei Ueberweg 1867, 1, 118 lesen). Ebenso konnte er voraussetzen,
dass die Vorstellung von einem „reinen Geist“ Anklänge an den Dialog Phaidon
und an Sokrates’ Bemühen, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen, wachru-
fen werde. Beim Lesen von Karl Friedrich Hermanns Geschichte und System der
Platonischen Philosophie dürfte ihm etwa folgende Überlegung untergekom-
men sein: „der Vermuthung, dass er als Ohrenzeuge mit geschichtlicher Treue
erzähle, hat /528/ Plato selbst ausdrücklich vorgebeugt ([...]), und je möglicher
es dessenungeachtet ist, dass jenes Verlangen reiner Geist zu werden wirklich
den Gegenstand von Socrates lezten [sic] Unterhaltungen ausgemacht habe,
desto weniger werden wir darin mehr als die erste Stufe der Entwickelung er-
kennen dürfen, die der Phaedo uns bereits als vollendet darstellt“ (Hermann
1839, 1, 527 f.). Diese Entwicklung zu einer Lehre vom „reinen Geist“ hat eben
nicht Sokrates, sondern sein Schüler Platon eigenständig vollzogen.
Die Vorrede von JGB macht nicht explizit, was das statische Wirklichkeits-
modell der Dogmatiker ablösen soll und wird, wenn dereinst deren Macht ge-
brochen ist. Aufschlussreich ist zur Beantwortung dieser Frage vielleicht NL
1885, KSA 11, 34[73], 442, 20-26 (entspricht KGW IX 1, N VII1, 147, 2-18): „Was
uns ebenso von Kant, wie von Plato und Leibnitz trennt: wir glauben an das
Werden allein auch im Geistigen, wir sind historisch durch und durch. [...]
Auch Kant hat die contradictio in adjecto ,reiner Geist4 nicht überwunden: wir
aber-“. Einerseits wird hier die Geschichte des „reinen Geistes“ fortge-
schrieben bis zum angeblich größten Kritiker der dogmatischen Philosophie;
andererseits wird mit deren geschichtlicher Betrachtung gerade die „durch und
durch“ historische Existenzform des reflektierenden „Wir“ demonstriert. Be-
reits MA I 2 hatte die Notwendigkeit eines „historische[n] Philosophi-
r e n [ s ] “ (KSA 2, 25, 13 f.) gegen den philosophischen Ewigkeits-Irrglauben
namhaft gemacht. Die Vorrede von JGB verzichtet zwar auf die Formulierung
einer expliziten historistischen Gegenstrategie zur dogmatischen Philosophie,
setzt aber eine solche Strategie in praxi um, indem nämlich die dogmatische
Philosophie selbst historisiert wird als eine bestimmte, mittlerweile „überwun-
den[e]“ (KSA 5, 12, 19) Epoche der abendländischen Geschichte, deren Wahr-
heits- und Ewigkeitsansprüche verwirkt scheinen. Ernsthaft über das „Gute an
sich“ oder über den „reinen Geist“ zu debattieren, fällt dem „Wir“ (KSA 5, 12,
 
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