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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0079
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Stellenkommentar JGB Vorrede, KSA 5, S. 12 59

Grundlegung zur Reform der Philosophie Platon der Hauptrepräsentant einer
unkritischen Subjekt- und Seelenlehre, die von Kant in die Knie gezwungen
worden sei. Unter Anspielung auf die Töchter von Shakespeares King Lear
heißt es dort z. B.: „Arm wie Cordelia neben ihren fetten, hochmütigen, prahle-
rischen Schwestern Goneril und Regan steht die kritische [sc. Kantische] See-
lenlehre neben der alten aufgeblasenen prunkenden Scheinwissenschaft, die
gleich bei ihrem ersten Auftreten im Phädrus und Phädon des Plato mit einem
gewaltigen Geräusch von bunten Geschichten und Fabeln aufmarschiert. Aber
Cordelia, sehr unähnlich ihren grosssprechenden Schwestern, hält mehr, als
sie verspricht!“ (Romundt 1885, 159).
Platon und der Platonismus verkörpern in der Vorrede zu JGB jene Positi-
on, die dem Ansinnen des sprechenden Wir am weitesten entfernt zu liegen
scheint - namentlich „Plato’s Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an
sich“ (12, 17 f.). Dennoch betonen besonders von Leo Strauss inspirierte Auto-
ren die Nähe von Platon und N. und gehen mitunter so weit, JGB als N.s Politeia
aufzufassen und weitgehende Parallelen zwischen N.s und Platons Werk zu
behaupten: „Indeed, in the broadest sense Beyond Good and Evil and the Re-
public have identical themes and structures.“ (Cooper 2008, 206) - eine Auffas-
sung, die dem Text nicht weniger Gewalt antut als diejenige, die ihn als Paral-
lelaktion zur Kritik der reinen Vernunft betrachtet. Strauss 1983,175 behauptet,
N. „platonisiere“ im Blick auf die Form nirgendwo sonst so wie in JGB, um
freilich den Beweis dafür schuldig zu bleiben, was dies genau bedeute. Wiehl
1998, 133 deduziert schließlich aus JGB Vorrede, KSA 5, 12f. einen ,,klare[n]
Gegensatz: Platonismus gegen Plato. Und während dem ersteren ein entschie-
denes Nein entgegengesetzt wird, wird dem zweiten [...] Bewunderung zuteil“.
Korrekt daran ist (was Wiehl freilich noch nicht wissen konnte), dass der Aus-
druck „Platonismus“ zusammen mit „Vedanta-Lehre“ eben erst auf einer spä-
ten Bearbeitungsstufe in den Text aufgenommen wurde und im Diktat vom
Sommer 1885 noch fehlte. Dennoch gibt es keinerlei Anhaltspunkt im Text,
dass N. den Platonismus von Platon separiert hätte. Das »entschiedene Nein4,
das N.s Text ausspricht, richtet sich ausdrücklich gegen Platon und seine „Er-
findung“ selbst (vgl. NK 12, 14-18). „Platonismus“ ist das, was sich von Platon
her ungebrochen in der europäischen Geschichte als ,,Alpdruck[.]“ (KSA 5, 12,
19) fortschreibt, für den Platon selbst die unmittelbare, unentschuldbare Ver-
antwortung trägt.
12, 14-18 Seien wir nicht undankbar gegen sie [sc. die dogmatische Philoso-
phie], so gewiss es auch zugestanden werden muss, dass der schlimmste, lang-
wierigste und gefährlichste aller Irrthümer bisher ein Dogmatiker-Irrthum gewe-
sen ist, nämlich Plato’s Erfindung vom reinen Geiste und vom Guten an sich.] Vgl.
NK 12, 12-14. Sehr ähnlich findet sich 12, 14-18 in Dns Mp XVI, BL 42r (Röllin
 
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