Stellenkommentar JGB Vorrede, KSA 5, S. 12 65
stattung sowie ihrer Geschichte abhängt (,,[k]urz die Auffassung der Dinge
wird hier immer auf einen bestimmten Standpunkt bezogen und ist also per-
spectivisch“. Teichmüller 1882, 185), sondern es ist für Lebewesen konstitutiv,
ihrer Perspektive Geltung verschaffen, d. h. sie gegen andere Perspektiven
durchsetzen zu wollen. Darin besteht ein elementares Lebensinteresse, das der
Idee eines allgemein „Guten“, wie es Platon zugeschrieben wird, widerspricht,
da dieses Gute den perspektivischen Individual- (aber auch Gattungs-)Interes-
sen zuwiderläuft. „Mithin steht auch Plato mitten in dem perspectivischen Zau-
berkreise“ (Teichmüller 1882, XIX).
12, 26-30 ja man darf, als Arzt, fragen: „woher eine solche Krankheit am
schönsten Gewächse des Alterthums, an Plato? hat ihn doch der böse Sokrates
verdorben? wäre Sokrates doch der Verderber der Jugend gewesen? und hätte
seinen Schierling verdient?“] Zur Sokrates-Kritik bei N. siehe NK 1/1, S. 249-257
u. ö. sowie NK 6/1, S. 259-285. Wenn der Philosoph hier, wie öfter in N.s Spät-
werk, als Arzt der europäischen Kultur auftritt (vgl. FW Vorrede 2, KSA 3, 349
6-14; NK KSA 6, 174, 14-16 u. 226, 8-12 sowie Wolf 2008), dann wird Platons
Verständnis des Philosophen adaptiert, der die Seele therapieren solle (vgl.
Kratylos 440c, dazu auch NK KSA 6, 72, 22 f. u. 73, 16 f.). In der vorbereitenden
Aufzeichnung KGW IX 1, N VII 1, 105, 32-34 ist noch von einer „Krankheit an
diesem so schönen Körper Plato“ die Rede (vgl. Dns Mp XVI, BL 42r, ediert bei
Röllin 2012, 217). Dass Sokrates mit der „Bekehrung des Plato [...] das Meister-
stück seiner Verführungs-Kunst“ gegeben habe, notierte N. in NL 1885, KSA 11,
34[136], 465, 27-466, 2 (entspricht KGW IX 1, N VII 1, 104, 10-12). Gegen den
Vorwurf, ein „Verderber der Jugend“ zu sein, wandte sich Sokrates angeblich
ausdrücklich in seiner Verteidigungsrede vor Gericht (Platon: Apologie 23c8-
e3), wurde aber trotzdem zum Tod durch den Schierlingsbecher verurteilt. Seit-
her überbieten sich die Philosophen mit Versicherungen, die Vorwürfe gegen
Sokrates seien haltlos gewesen: „ein Mann, dessen wohlthätiger Einfluss nicht
blos an vielen Einzelnen sich bewährt, sondern der in seinem Volke für Jahr-
hunderte einen neuen sittlichen Grund gelegt hat, war selbstverständlich kein
Verderber der Jugend“ (Zeller 1859, 2, 154). An diesem „selbstverständlich“ ist
N. nicht länger festzuhalten bereit.
12, 30-13, 9 Aber der Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und für’s
„Volk“ zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtau-
senden — denn Christenthum ist Platonismus für’s „Volk“ — hat in Europa eine
prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da
war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zie-
len schiessen. Freilich, der europäische Mensch empfindet diese Spannung als
Nothstand; und es ist schon zwei Mal im grossen Stile versucht worden, den Bo-
stattung sowie ihrer Geschichte abhängt (,,[k]urz die Auffassung der Dinge
wird hier immer auf einen bestimmten Standpunkt bezogen und ist also per-
spectivisch“. Teichmüller 1882, 185), sondern es ist für Lebewesen konstitutiv,
ihrer Perspektive Geltung verschaffen, d. h. sie gegen andere Perspektiven
durchsetzen zu wollen. Darin besteht ein elementares Lebensinteresse, das der
Idee eines allgemein „Guten“, wie es Platon zugeschrieben wird, widerspricht,
da dieses Gute den perspektivischen Individual- (aber auch Gattungs-)Interes-
sen zuwiderläuft. „Mithin steht auch Plato mitten in dem perspectivischen Zau-
berkreise“ (Teichmüller 1882, XIX).
12, 26-30 ja man darf, als Arzt, fragen: „woher eine solche Krankheit am
schönsten Gewächse des Alterthums, an Plato? hat ihn doch der böse Sokrates
verdorben? wäre Sokrates doch der Verderber der Jugend gewesen? und hätte
seinen Schierling verdient?“] Zur Sokrates-Kritik bei N. siehe NK 1/1, S. 249-257
u. ö. sowie NK 6/1, S. 259-285. Wenn der Philosoph hier, wie öfter in N.s Spät-
werk, als Arzt der europäischen Kultur auftritt (vgl. FW Vorrede 2, KSA 3, 349
6-14; NK KSA 6, 174, 14-16 u. 226, 8-12 sowie Wolf 2008), dann wird Platons
Verständnis des Philosophen adaptiert, der die Seele therapieren solle (vgl.
Kratylos 440c, dazu auch NK KSA 6, 72, 22 f. u. 73, 16 f.). In der vorbereitenden
Aufzeichnung KGW IX 1, N VII 1, 105, 32-34 ist noch von einer „Krankheit an
diesem so schönen Körper Plato“ die Rede (vgl. Dns Mp XVI, BL 42r, ediert bei
Röllin 2012, 217). Dass Sokrates mit der „Bekehrung des Plato [...] das Meister-
stück seiner Verführungs-Kunst“ gegeben habe, notierte N. in NL 1885, KSA 11,
34[136], 465, 27-466, 2 (entspricht KGW IX 1, N VII 1, 104, 10-12). Gegen den
Vorwurf, ein „Verderber der Jugend“ zu sein, wandte sich Sokrates angeblich
ausdrücklich in seiner Verteidigungsrede vor Gericht (Platon: Apologie 23c8-
e3), wurde aber trotzdem zum Tod durch den Schierlingsbecher verurteilt. Seit-
her überbieten sich die Philosophen mit Versicherungen, die Vorwürfe gegen
Sokrates seien haltlos gewesen: „ein Mann, dessen wohlthätiger Einfluss nicht
blos an vielen Einzelnen sich bewährt, sondern der in seinem Volke für Jahr-
hunderte einen neuen sittlichen Grund gelegt hat, war selbstverständlich kein
Verderber der Jugend“ (Zeller 1859, 2, 154). An diesem „selbstverständlich“ ist
N. nicht länger festzuhalten bereit.
12, 30-13, 9 Aber der Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und für’s
„Volk“ zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirchlichen Druck von Jahrtau-
senden — denn Christenthum ist Platonismus für’s „Volk“ — hat in Europa eine
prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da
war: mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zie-
len schiessen. Freilich, der europäische Mensch empfindet diese Spannung als
Nothstand; und es ist schon zwei Mal im grossen Stile versucht worden, den Bo-