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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0087
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Stellenkommentar JGB Vorrede, KSA 5, S. 12-13 67

Streifzüge eines Unzeitgemässen 38 einen eigenen Begriff von Freiheit, der ge-
gen den landläufigen Liberalismus geradezu die Zwangsherrschaft fordert (vgl.
NK 6/1, S. 511-514).
12, 33 f. Christenthum ist Platonismus für’s „Volk“] Im Druckmanuskript korri-
giert aus: „Christenthum ist verpöbelter Platonismus“ (KSA 14, 346; N. kommt
darauf in einer Vorarbeit zu JGB 199 zurück, vgl. NK 120, 15-22). Genau diese
Formulierung benutzte N. in seinem Brief an Overbeck vom 31. 03.1885 und
münzte sie auf die Bekenntnisse des Augustinus: „Ich las jetzt, zur Erholung,
die Confessionen des h(eiligen} Augustin, mit großem Bedauern, daß Du nicht
bei mir warst. Oh dieser alte Rhetor! Wie falsch und augenverdreherisch! Wie
habe ich gelacht! (zb. über den ,Diebstahl4 seiner Jugend, im Grunde eine Stu-
denten-Geschichte.) Welche psychologische Falschheit! (zb. als er vom Tode
seines besten Freundes redet, mit dem er Eine Seele gewesen sei ,er habe
sich entschlossen, weiter zu leben, damit auf diese Weise sein Freund nicht
ganz sterbe4. So etwas ist ekelhaft verlogen.) Philosophischer Werth gleich
Null. Verpöbelter Platonismus, das will sagen, eine Denkweise, welche
für die höchste seelische Aristokratie erfunden wurde, zurecht gemacht für
Sklaven-Naturen. Übrigens sieht man, bei diesem Buche, dem Christenthum
in den Bauch: ich stehe dabei mit der Neugierde eines radikalen Arztes und
Physiologen.“ (KSB 7/KGB III/3, Nr. 589, S. 34, Z. 43-57; vgl. NK KSA 6, 248,
31-249, 7 sowie zu N. und Augustinus Sommer 1998a, bes. 147 f.). Die wörtliche
Übereinstimmung der Formulierung im Brief von 31. 03.1885 und im Druckma-
nuskript der Vorrede von JGB hilft nicht nur bei deren Datierung, sondern kon-
kretisiert auch den Referenzrahmen der Platonismus-Diskussion zu Beginn des
Werks: Es ist die christliche Adaption Platons, wie sie Augustinus vornimmt,
also die maßgebliche lateinische (und nicht die griechische!) Traditionslinie
der Platonisierung des Christentums. Auch Teichmüller 1882, XI, Fn. spricht
die Popularisierung Platons bei den Kirchenvätern an.
13,1-3 mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten
Zielen schiessen] Das Motiv des „gespannten Bogens“, das in der Vorrede der
Selbstbeschreibung des schreibenden Ich dient (vgl. KSA 5, 13, 13-15), geht
zurück auf Heraklit, der die Wirklichkeit als spannungsgeladene Einheit von
Widerstrebendem mit dem Bild der „zurückgespannten Fügung wie von Bogen
und Leier“ („naAivTovoc; äppovip oKwanep to^ou Kai Auppc;44), also der Bogen-
spannung sowohl der Waffe wie des Musikinstrumentes einzufangen trachtete
(Diels/Kranz 1951, 22 B 51). Zu N.s gleichfalls an Heraklits Metaphorik anklin-
gendem Begriff der Spannkraft vgl. auch NK KSA 6, 138, 21. JGB 262 beschreibt
die Wirkung einer rigiden Moral als Anspannung eines Bogens, der in einer
Phase des Überflusses auf unterschiedliche Weise wieder abgespannt werden
kann, vgl. NK 216, 11-13.
 
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