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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0088
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68 Jenseits von Gut und Böse

13, 6 Jesuitismus] Vgl. NK 13, 11-16. Der gegenreformatorische Jesuitenorden
war nicht nur unter Protestanten namentlich im Kulturkampf sowie für Janse-
nisten wie Blaise Pascal das Feindbild par excellence. (Einer Bücherliste in NL
1886/87, KSA 12, 5[110], 229 = KGW IX 3, N VII 3, 188, 2-4 zufolge scheint N.
zumindest die Absicht gehabt zu haben, sich über die im engeren Sinne jesuiti-
sche Sicht anhand des Compendium theologiae moralis des Jesuitenpaters Jean-
Pierre Gury - Gury 1862 - zu informieren.) Der mit den Jesuiten verbundene
Ismus steht im zeitgenössischen Kontext generell für eine einseitig an Glücks-
bedürfnisbefriedigung und nicht an der schrecklichen Wahrheit orientierte,
laxe, kasuistische Moral sowie für den berüchtigten Kadavergehorsam gegen-
über einer lebensbestimmenden Institution, sprich für Heteronomie (vgl. Hart-
mann 1879, 94 u. 567-569 mit Lesespuren N.s). So münzte Eduard von Hart-
mann in seiner Phänomenologie des sittlichen Bewusstseins, die N. durchgear-
beitet hat, den Jesuitismus-Vorwurf, den er zunächst im Zusammenhang des
Katholizismus erhob („Dem Jesuitismus gilt als absoluter Zweck die Weltherr-
schaft der jesuitisch organisirten katholischen Kirche“; ebd., 565; von N. mit
Randstrich markiert), auf John Stuart Mill (vgl. Fornari 2009, 183): „Dass der
Jesuitismus wirklich die letzte Consequenz des social-eudämonistischen Prin-
cips bilden muss, davon hat natürlich Mill keine Ahnung, und würde heftig
dagegen protestirt haben; aber schon bei ihm bricht dieser Zug unbewusst
durch, indem er die Wahrheit dem Glück opfern zu dürfen glaubt, wenn das
Glück in der Illusion und nicht in der Wahrheit zu finden ist.“ (Hartmann 1879,
608, Fn.; von N. mit Randstrich markiert. Direkt aufgenommen wird diese
Überlegung in NL 1883, KSA 10, 7[2O3], 306).
Entsprechend können alle möglichen Gegenwartsphänomene, die an sich
weder mit dem Jesuitenorden noch überhaupt mit der katholischen Kirche et-
was zu tun haben, unter „Jesuitismus“ verbucht werden, wenn sie nur auf „Be-
glückung der Menschheit durch Aufrechterhaltung der Illusionen des Glau-
bens“ abzielen (Hartmann 1879, 646; von N. mit Randstrich markiert). Der Je-
suitismus erweist sich bei Hartmann dabei je nach Umweltbedingungen als
optimal anpassungsfähig: „Stets bereit, die zukunftsverheissenden Keime neu
auftauchender Zeitideen sich anzueignen und in seinem Dienste zu verwer-
then, hat der Jesuitismus nicht bloss den demokratischen Tendenzen des mo-
dernen Zeitgeistes nach längerem Zögern entschieden Rechnung zu tragen be-
gonnen, sondern er hat diese Tendenzen sogar ausdrücklich in der Form der
Socialdemokratie adoptirt“ (ebd., 648). Zusammen mit der „religionslose[n] So-
cialdemokratie“ bilde „der socialdemokratische Jesuitismus“ die ,,sociale[.]
Umsturzpartei“ (ebd.). Diesen Gedanken nimmt N. unter dem Einfluss der Hart-
mann-Lektüre auf und formuliert eine explizite Gegenoption, die in der Vorrede
von JGB verrätselt bleibt: „Der höchste Gesichtspunkt des Jesuitis-
 
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