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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0090
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70 Jenseits von Gut und Böse

Kraft ihr Haupt erheben und die Vertreter der modernen Cultur zu bisher
unerhörten Anstrengungen zur Behauptung der Cultur und der Sicherung
ihrer Fortentwickelung zwingen, dass der »Culturkampf4 gradezu zum Stich-
wort unserer Culturepoche gestempelt worden ist“ (Hartmann 1879, 669; N.s
Unterstreichungen).
Um die Positionierung in der Vorrede von JGB zu verstehen, ist es unerläss-
lich, den in den Nachlassaufzeichnungen und in den Lektürespuren dokumen-
tierten Kontext von N.s Auseinandersetzung mit Eduard von Hartmann zu be-
rücksichtigen: Während Hartmann beim Gegensatz von Aufklärung und Jesui-
tismus verharrt, den Sozialismus aber auf der Seite des Jesuitismus ansiedelt,
versieht N. die Aufklärung mit dem bezeichnenden Epitheton „demokratisch“
(KSA 5, 13, 6) und kann so Jesuitismus und Aufklärung gleichermaßen auf der
gegnerischen Seite gruppieren. Die Transformation der Vorlage ist unmittelbar
zu greifen in KGW IX 1, N VII 1, 81, 1-34 (zitiert in NK 12, 30-13, 9), wo N.
zunächst mit Hartmann ,,socialist[ische] Demokratie“ schrieb, dies dann aber
strich und durch ,,demokr[atische] Aufklärung“ ersetzte. Die Vorrede von JGB
gibt N.s dringendem Bedürfnis nach, sich als homo singularis zu stilisieren und
das „Wir“ (KSA 5,13,11) vom zeitgenössisch landläufigen intellektuellen Front-
verlauf abzugrenzen. Daher kann sich dieses „Wir“ unmöglich mit Hartmanns
Kulturkampf-Enthusiasmus oder gar mit der Politik Bismarcks gemein machen;
all das würde unter die Kategorie „demokratische Aufklärung“ fallen, die für
die »Abspannung des Bogens4 des europäischen Geistes verantwortlich ge-
macht wird. Zugleich gibt diese Frontstellung Gelegenheit, den Anschein auf-
klärerischer Gesinnung, die N.s Schriften von Menschliches, Allzumenschliches
bis zur Fröhlichen Wissenschaft anhaftete, durch die Zurückweisung demokrati-
scher Aufklärung wenigstens partiell abzustreifen, ohne bei alledem eine direk-
te Konfrontation mit der politischen Macht im Deutschen Reich zu wagen. Trotz
der scheinbar so dezidierten Rhetorik der Vorrede zu JGB, die auf die Alleinstel-
lung des Sprechenden zielt, bleiben die Positionsbezüge letztlich doch unver-
bindlich und damit vielfach anschlussfähig, gerade auch für eine autoritäre
Politik. Vgl. NK 134, 17-26.
13, 9-11 Die Deutschen haben das Pulver erfunden — alle Achtung! aber sie
haben es wieder quitt gemacht — sie erfanden die Presse.] Diese Behauptung
basiert auf einer längeren Aufzeichnung in NL 1885, KSA 11, 34[92], 450 f. (KGW
IX 1, N VII 1, 133 f.), die ein Anliegen aus der Vorrede von JGB noch stärker
historisch konkretisiert, indem sie nämlich zeigt, worin genau die „Spannung“
besteht, die offensichtlich so fruchtbar für die europäische Geschichte gewesen
ist: „Man verdankt der christlichen Kirche / 1) eine Vergeistigung der Grau-
samkeit [...]. / 2) sie hat den Europäer-Geist fein und geschmeidig ge-
macht, durch ihre »Intoleranz4. Man sieht es sofort, wie in unserem demokrati-
 
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