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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0096
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76 Jenseits von Gut und Böse

künftiger geistiger Bewegung gilt. Es wird also nicht wirklich deutlich, gegen
wen das „Wir“ im Kampf wach und angespannt bleiben kann. JGB 1 beantwor-
tet diese Frage zumindest partiell, indem hier das Selbstverständnis von Philo-
sophie in jedweder Ausgestaltung - platonisch und unplatonisch - problema-
tisiert wird, gab sich Philosophie doch stets überzeugt vom Wert der Wahrheit.
Der Abschnitt gibt die Aussicht frei auf die Möglichkeit einer Philosophie, die
sich nicht an Wahrheit orientiert. Dahinter steht nicht nur die Pilatus-Frage
„Was ist Wahrheit?“ (vgl. NK KSA 6, 225, 2-10 u. Sommer 2004), sondern auch
die in der Anspielung auf Ödipus und die Sphinx greifbare Einsicht, dass (man-
che) Wahrheit schädlich, grausam und nicht wissenwert, mithin wertlos sein
könnte. Zur Interpretation von JGB 1 siehe Tongeren 1989, 105-110; Lampert
2001, 20-24; Burnham 2007, 9-11; Clark/Dudrick 2012, 31-37 u. Heit 2014c, TJ-
29.
15, 4-7 Der WZZZe zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen
wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit Ehrer-
bietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon
vorgelegt!] Im Unterschied zu den in NK ÜK JGB 1 mitgeteilten Vorüberlegun-
gen in W I 7 wird hier die „Wahrhaftigkeit“ nicht als „Problem“ verstanden,
das dann vor die Augen des Reflektierenden tritt, wenn er nach den „Ursa-
chen“ des Wahrheitsverlangens fragt. Stattdessen wird sie jetzt in einer Ap-
position mit diesem Verlangen, dem „Willen zur Wahrheit“ gleichgesetzt, der
„fragwürdige Fragen“ (KSA 5,15, 8) generiere. Die Wahrhaftigkeit, die seit Pla-
ton (Hippias minor 376c) eine große philosophische Karriere absolviert hat,
wird damit an den Rand der Argumentation gedrängt. Bei N. wird ihr andern-
orts - vgl. NK 103,11 f. - mit viel Reserve begegnet, während „das Problem der
Wahrhaftigkeit“ der Vorüberlegung W I 7 wiederkehrt in JGB 5, KSA 5,18, 27 f.,
wo die Philosophen viel „Lärm“ darum machen, weil sie den Eindruck der Inte-
ressen- und Perspektivengebundenheit auch ihres eigenen Wahrheitsstrebens
nicht aufkommen lassen wollen. Intensiv gelesen und vielfach markiert hat
N. die Erörterungen zu Wahrhaftigkeit und Lüge bei den Griechen in Leopold
Schmidts Ethik der alten Griechen (Schmidt 1882, 2, 402-414). Dabei hob N.
besonders Stellen hervor, die einen situativ-pragmatischen Umgang mit der
Wahrheit indizieren.
15, 4 Wille zur Wahrheit] N. benutzt die Wendung „Wille zur Wahrheit“ erst-
mals im Heft Z I 1 vom Sommer 1882, einer Sentenzensammlung, die er dann
für das Vierte Hauptstück von JGB ausbeuten wird. Es heißt dort: ,„Wille zur
Wahrheit!4 Reden wir nicht mehr so einfältig und großthuerisch! Wir wollen
die Welt uns denkbar, womöglich sichtbar machen — ja machen! — Alle
Physik ist auf Sichtbar-Machung aus.“ (NL 1882, KSA 10, 3[1]284, 87, 11-14)
 
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