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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0097
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Stellenkommentar JGB 1, KSA 5, S. 15 77

Fortan ist sie im Nachlass ebenso präsent wie in Za II und FW V, jeweils mit
deutlich kritischer Akzentuierung, um das Illusionäre einer Weitsicht zu entlar-
ven, die vom metaphysischen Glauben an die Wahrheit als höchsten Wert be-
seelt ist und selbst die Wissenschaften in Bann hält. Wenn FW 344 den „unbe-
dingte[n] Wille[n] zur Wahrheit“ sowohl als ,,Wille[n], sich nicht täu-
schen zu lassen“ als auch als ,,Wille[n], nicht zu täuschen“ zur
Diskussion stellt (KSA 3, 575,18-20), wird damit implizit Bezug genommen auf
einen „Der Wille zur Wahrheit“ betitelten Abschnitt im Descartes-Band
von Kuno Fischers Geschichte der neuern Philosophie, der den Willen in Descar-
tes’ Meditationes de prima philosophia IV zum Ursprung sowohl der „Selbsttäu-
schung“ als auch der „Selbstkritik“, sowohl der Wahrheit als auch des Irrtums
erklärt: „Gegen die eingewurzelte Selbsttäuschung war das einzige Mittel, um
unsere Blendungen zu durchschauen, daß wir an uns selbst irre werden, daß
wir an allen unseren Vorstellungen zweifeln, daß wir uns an diesen Zweifel
gewöhnen und diese Selbstkritik ebenso in uns befestigen und zur Herr-
schaft bringen, als sich die Selbsttäuschung befestigt hatte. Wie kann dies an-
ders geschehen, als durch den Willen?“ (Fischer 1865, 1, 361; vgl. NK KSA 6,
125, 6-14). Auch in JGB 2, KSA 5, 16, 3 f. wird der Wille zur Wahrheit mit dem
Willen zur Täuschung assoziiert und - ganz anders als bei Descartes und Fi-
scher - ersterer versuchsweise auf letzteren zurückgeführt. Das wiederum
passt zu JGB 211, KSA 5,145,15 f., wonach der „Wille zur Wahrheit“ der „Wille
zur Macht“ der „eigentlichen“, nämlich gesetzgebenden Philosophen sei,
während die Auffassung, hinter der Frage nach der wirklichen und der schein-
baren Welt stecke bloß der „Wille zur Wahrheit“, in JGB 10, KSA 5, 23, 1-3 als
Naivität weggewischt wird. Dem „Willen zur Wahrheit“ kontrastiv gegenüber
steht auch der „Wille zum Schein“, vgl. z. B. NK 168, 21-27. N.s erste Verwen-
dung der Formel „Wille zur Wahrheit“ koinzidiert zeitlich mit der 1881 begon-
nenen Fischer-Lektüre, auch wenn sie ihm in anderen Büchern seiner Privat-
bibliothek ebenfalls begegnet sein kann, doch dort in nicht spezifisch philoso-
phischem Zusammenhang (Wahrmund 1859, 84 spricht beispielsweise dem
Historiker Polybios diesen Willen zu). Vgl. zur philosophischen Interpretation
z. B. Jenkins 2012.
15,11-14 Dass wir von dieser Sphinx auch unserseits das Fragen lernen? Wer
ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Was in uns will eigentlich „zur
Wahrheit“?] Der eingangs genannte „Wille zur Wahrheit“ wird - wie schon in
der oben zitierten Vorstufe in W I 5 - als die „Sphinx“ identifiziert, die eben
der Philosophie und der Wissenschaft für Jahrtausende die Frage nach der
Wahrheit eingeimpft hat. Wenn das „Wir“ sich jetzt „ungeduldig umdreh[t]“
(KSA 5, 15, 11), dann bleibt es im Sphinx-typischen Modus des Fragens, lenkt
 
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