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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0120
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100 Jenseits von Gut und Böse

1830, 525 f.). Ein Jahr vor JGB erschien Carl du Preis vieldiskutierte Philosophie
der Mystik, die Ansätze Eduard von Hartmanns spiritistisch-okultistisch weiter-
entwickelte und Mystik mit Somnambulismus assoziierte: Dabei sollen mys-
tisch-somnambulische „Inspirationen [...] aus der Region des Unbewussten“
stammen (Prel 1885, 278). Wenn JGB 5 „von den Mystikern jeden Rangs“ han-
delt, mussten zeitgenössische Leser keineswegs zwangsläufig an mittelalterli-
che Gestalten wie Meister Eckhart denken (vgl. FW 292, KSA 3, 533, 18 f.; NL
1883, KSA 10,15[8], 481,15; NL 1884, KSA 11, 26[3], 151, 11 f.), sondern konnten
darin also auch eine Anspielung auf diese aktuelle Debatte erkennen.
In Ecce homo wird eine Aneignung des parareligiösen Inspirationsbegriffes
in eigener Sache versucht, vgl. NK KSA 6, 339, 9-21.
19,10-12 sehr ferne von der Tapferkeit des Gewissens, das sich dies, eben dies
eingesteht, sehr ferne von dem guten Geschmack der Tapferkeit] Die Tapferkeit
(ävöpeia) galt zwar bei Platon als eine der vier Kardinaltugenden (Politeia 429-
430), machte aber seither in der Philosophie eine wechselvolle Karriere, zumal
sie seit Aristoteles vornehmlich mit dem Krieg assoziiert wurde (vgl. Nikoma-
chische Ethik III 9, 1115). Die starke Präferenz für die Tapferkeit in N.s Werk,
die sich mit einer Fülle von Stellen belegen lässt (vgl. Zibis 2007), hängt zum
einen mit dem bellizistischen Selbstverständnis seines Philosophierens zusam-
men, und kann zum anderen als kritische Antwort auf Schopenhauers Gering-
schätzung der Tapferkeit gedeutet werden: „Tapferkeit ist gar keine Tugend,
wiewohl bisweilen ein Diener, oder Werkzeug, derselben: aber sie ist auch
eben so bereit, der größten Nichtswürdigkeit zu dienen: eigentlich ist sie eine
Temperamentseigenschaft.“ (Schopenhauer 1873-1874, 6, 218) Die Tapferkeit
in JGB 5 evoziert die Vorstellung, die hier namenlos bleibenden Gegner her-
kömmlicher Philosophie befänden sich im Kriegszustand.
19,14 f. Die ebenso steife als sittsame Tartüfferie des alten Kant] Vgl. JGB 228,
KSA 5, 164, 13-15 u. NK KSA 6, 111, 7. Von 1883 an gibt es bei N. mehrere Dut-
zend Stellen, die „Tartüfferie“ in der einen oder anderen Form geißeln. Die
erste einschlägige Nachlassaufzeichnung, ein Entwurf zu Za III, bringt den
Ausdruck mit dem späteren Buchtitel unter einen Hut: „11. Jenseits von ,gut‘
und ,böse‘ — die Tartüfferie der Schwachen. Spencer 2 p 110“ (NL 1883, KSA
10, 2O[3], 589,19 f. Auf der fraglichen Seite bei Spencer, die N. mit einem Esels-
ohr markiert hat, fällt freilich der Ausdruck „Tartüfferie“ nicht. Es geht dort
vielmehr um die Anpassungsnöte der „Ueberlegenen“ gegenüber der politi-
schen „Massenintelligenz“ - Spencer 1875, 2, 110). Obwohl N. einige Werke
Molieres besaß (vgl. NPB 390 u. 392), ist die Komödie Tartuffe ou l’imposteur
(1664) unter seinen Büchern nicht erhalten: Die Titelfigur ist ein religiöser
Heuchler (vgl. zum Stück die an Baudelaire angelehnte Bemerkung in NL 1887/
 
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