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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0124
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104 Jenseits von Gut und Böse

nicht erhalten, so dass man nur aus der Retrospektive ihres 1894 erstmals er-
schienenen Buches Friedrich Nietzsche in seinen Werken darüber spekulieren
kann, wie ihr Konzept 1882 ausgesehen hat. Denn tatsächlich setzte sie an den
Anfang „zum Vorwort“ ihres Werkes ein Faksimile des eben zitierten N.-Briefes
an sie (Andreas-Salome 1994, 24 f.). Die gemeinsam mit N. und in Auseinander-
setzung mit ihm entwickelte ,Personalakten-Methode‘ bot Andreas-Salome
dann den Schlüssel für N.s Schriften als „Summe von Monologen“, die „ein
einziges großes Memoirenwerk“ bildeten, „dem sein Geistesbild zu Grunde
liegt. Dieses Bild ist es, das ich hier zu zeichnen versuche: das Gedanken-Erleb-
nis in seiner Bedeutung für Nietzsches Geisteswesen - das Selbstbekenntnis in
seiner Philosophie“ (Andreas-Salome 1994, 31. Vgl. Sommer 2012d). Auch JGB
6 wurde von Andreas-Salome zur Beglaubigung des in Angriff genommenen
N.-Forschungsprogrammes herangezogen (Andreas-Salome 1994, 29 f.).
N.s Hinweis in seinem Brief, er habe Salomes Überlegung bereits früher in
Basel praktisch umgesetzt, lässt sich an seinen Vorlesungen, aber auch an der
unveröffentlichen Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
sowie an UB III SE verifizieren - ein Werk, das Salome von N. im Mai 1882
erhalten hatte (vgl. KGB III 7/1, 280). In der Denkbewegung sowohl von N.s
Aufzeichnung in Z I 1 als auch von Salomes These hin zu den Notaten von
1885, zu JGB 6 sowie zu Andreas-Salomes N.-Monographie von 1894 fällt auf,
dass der Systemgedanke später aus dem Blickfeld rückt. Zunächst einmal
stand, wie insbesondere die ursprüngliche Fassung von 3[1]79 dokumentiert,
mit ihrer Behauptung, „philosophische Systeme“ seien „eine unverschämte
Form, von sich zu reden“, eine Attacke auf das Systemdenken als solches auf
dem Programm - ein Systemdenken, das Allgemeingültigkeit beansprucht,
dessen Produkte aber immer nur höchst Individuelles und Partikulares zum
Ausdruck bringen. Die Attacke lebte also vom Widerspruch zwischen dem All-
gemeinheitsanspruch des Systems und der Partikularwirklichkeit, die damit
artikuliert wird. Unausgesprochen bleibt hierbei ein Philosophieren, das seine
Gedanken nicht in ein System zwingt, vom Angriff verschont, da das nicht-
systematische Philosophieren eben den Allgemeinheitsanspruch nicht stellt,
der zu jenem Widerspruch führe.
Zwischen den Äußerungen von 1882 und den Überlegungen in und im Um-
feld von JGB steht ein Notat, das die Perspektive ausweitet und die Erzeugnisse
von Musikern unter dieselbe Selbstbekenntnis- und Trieblogik zwingt wie die
der Philosophen: „Jetzt erst dämmert es den Menschen auf, daß die Musik eine
Zeichensprache der Affekte ist: und später wird man lernen, das Trieb-system
eines Musikers aus seiner Musik deutlich zu erkennen. Er meinte wahrlich
nicht, daß er sich damit verrathen habe. Das ist die Unschuld dieser
Selbstbekenntnisse, im Gegensatz zu allen geschriebenen Werken. / Aber es
 
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