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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0128
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108 Jenseits von Gut und Böse

JGB 6 gegen einen solchen natürlichen Erkenntnistrieb polemisiert und ihn als
Vermummung eines ganz anderen Triebs verdächtigt, wendet sich dies nicht
nur gegen eine mächtige philosophische Tradition, sondern konterkariert auch
eine Überlegung in M 429, KSA 3, 264 f., die die Macht des „Triebes zur Erkennt-
niss“ auf moderne Menschen herausstrich und betonte, dass „wir“ der Erkennt-
nis zu unserem Glück zu bedürfen glaubten: Der Erkenntnistrieb hat sich da zu
einer verzehrenden „Leidenschaft“ ausgewachsen, der keine sonstigen Triebe
standzuhalten vermögen. Aus JGB 6 spricht hingegen Misstrauen gegenüber
dieser einstigen Selbststilisierung eines erkenntnislüsternen Wir.
20, 16f. Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig: und als solcher versucht er zu
philosophiren.] Diese Überlegung adaptiert Martin Heidegger zu Beginn seiner
Habilitationsschrift Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, be-
vor es bei ihm tatsächlich zu einer eingehenderen N.-Rezeption gekommen ist
(vgl. dazu im Überblick Müller-Lauter 2000, 1-32): „Die Philosophie lebt zu-
gleich in einer Spannung mit der lebendigen Persönlichkeit, schöpft aus deren
Tiefen und Lebensfülle Gehalt und Wertanspruch. Zumeist liegt daher jeder
philosophischen Konzeption eine persönliche Stellungnahme des betreffenden
Philosophen zugrunde. Dieses Bestimmtsein aller Philosophie vom Subjekt her
hat Nietzsche in seiner unerbittlich herben Denkart und plastischen Dar-
stellungsfähigkeit auf die bekannte Formel gebracht vom ,Trieb, der phi-
losophiert4.“ (Heidegger 1916, 4) Heidegger weist die Stelle nicht nach; bei
N. gibt es ein solches indikativisches Zitat auch nicht, sondern eben nur die
Formulierung mit dem Hilfsverb in 20, 16 f. Heidegger macht N. hier zum Zeu-
gen eines personalistischen Philosophieverständnisses, wonach jede Philoso-
phie vom Subjekt her bestimmt ist. Ob sich die Rede vom „Trieb“ in JGB 6
tatsächlich als Beleg eines solchen Philosophieverständnisses eignet, sei da-
hingestellt; immerhin scheint der Triebbegriff hier gerade etwas Überindividu-
elles und Überpersönliches zu implizieren.
20, 17-20 Freilich: bei den Gelehrten, den eigentlich wissenschaftlichen Men-
schen, mag es anders stehn — „besser“, wenn man will —, da mag es wirklich so
Etwas wie einen Erkenntnisstrieb geben] Zur Thematik vgl. JGB Sechstes Haupt-
stück: wir Gelehrten (JGB 204-213).
20, 30-34 Umgekehrt ist an dem Philosophen ganz und gar nichts Unpersönli-
ches; und insbesondere giebt seine Moral ein entschiedenes und entscheidendes
Zeugniss dafür ab, wer er ist — das heisst, in welcher Rangordnung die inners-
ten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind.] In MA I 95, KSA 2, 91 f. wurde
festgestellt, dass bisher „das Unpersönliche“ als Inbegriff des Moralischen ge-
golten hätte, während sich gegenwärtig eine Änderung dieser Sicht abzeichne.
NL 1881, KSA 9, 11[65], 466 verdächtigte dann das Unpersönliche als bloß ge-
 
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