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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0135
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Stellenkommentar JGB 9, KSA 5, S. 21 115

Wie auch immer es um die Quellensituation bestellt sein mag, wenig kon-
trovers erscheint die Aussage von JGB 8: Der Philosoph mache sich zum (im-
merhin schön und stark herausgeputzten) Esel, wenn er die „Überzeugung“
als Angelpunkt seines Philosophierens braucht (vgl. auch Born 2014e). In AC
54 wird die Ansicht vertreten, dass „Überzeugungen“ „Gefängnisse“ seien, de-
ren man sich allenfalls in strategischer Absicht bedienen dürfe, ohne sich ih-
nen dabei jedoch zu unterwerfen (vgl. NK KSA 6, 236, 6 f. u. NK KSA 6, 236,13-
21). Gerade dies, sich „Überzeugungen“ - unbewiesenen oder unbeweisbaren
Glaubenssätzen - ausgeliefert zu haben, ist der Vorwurf an die Adresse der
herkömmlichen Philosophen, während JGB - namentlich im Sechsten Haupt-
stück: wir Gelehrten (JGB 204-213) - den Philosophen der Zukunft Skepsis,
Überzeugungsabstinenz verordnet. Ein N. wohlbekannter Philosoph, der sich
ausdrücklich zum Anwalt der „Überzeugung“ gemacht hatte, war Gustav
Teichmüller, siehe NK 23, 21-27.
9.
JGB 9 gibt ein Anwendungsbeispiel für die in JGB 8 angesprochene Eselei jener
Philosophen, die mit ihrer „Überzeugung“ hausieren gehen: Die „Stoiker“, von
denen hier die Rede ist, stülpen ihre „Überzeugung“ der „Natur“ über, anstatt
tatsächlich die Natur zum Maßstab ihres Denkens und Handelns zu machen.
Nicht erst die Stoiker, sondern bereits Heraklit hatte statuiert, „Weisheit“ sei
es, „das Wahre zu sagen und zu schaffen gemäß der Natur, auf sie zu hören“
(„aoipip äÄpÖEa Acyctv Kai noiciv Kara ipuaiv Enaiovrac;“. Diels/Kranz 1951, VS
22 B 112, vgl. auch Hershbell/Nimis 1979, 29). Zur Interpretation von JGB 9 siehe
Bertino 2005, 119-124 u. Zibis 2007, 91-93.
Aus N VII1 teilt KSA 14, 349 die folgende erste Fassung mit: ,„Gemäß der
Natur4 leben? Oh ihr Stoiker, welche edle Lügnerei! Denkt euch ein Wesen,
verschwenderisch, gleichgültig, ohne Absichten, ohne Erbarmen, fruchtbar
und oede, denkt euch die Indifferenz selber - wie könntet ihr gemäß dieser
Indifferenz leben! Leben ist das nicht ein Anders-sein-Wollen als diese Natur
ist? Und gemäß dem Leben leben? Wie könntet ihr’s denn nicht? Wozu ein
Princip daraus machen! Thatsächlich formt ihr euch die Natur erst nach dem
Bilde eures Weisen! Und dann möchtet ihr euch nach diesem Bilde eures Bildes
formen! Gilt auch gegen Goethe, gegen Taine usw.“ Aufschlussreich ist diese
Version vor allem, weil sie mit der Nennung von Goethe und Hippolyte Taine
im Unterschied zur Druckfassung klar benennt, bei welchen Autoren die den
antiken Stoikern unterstellte Formung der Natur (Vorstellung) nach den eige-
nen Präferenzen in moderner Zeit ihre Fortsetzung gefunden hat. Dagegen blei-
ben die Hinweise in JGB 9 ganz vage (KSA 5, 22, 23 f.: „begiebt sich heute
 
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