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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0136
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116 Jenseits von Gut und Böse

noch“). Die erste Fassung spielt im Unterschied zu JGB 9 auch noch auf Platons
Kritik an den bildenden Künstlern als Produzenten von Abbildern eines Ab-
bilds der Idee an, die schon einmal in der Reinschrift von GT 11 thematisiert
worden war (siehe KSA 14, 51). Die Nebenbemerkung zu Taine in N VII1 könnte
auf die Einleitung zu dessen Geschichte der englischen Literatur gemünzt gewe-
sen sein, wo N. sich beispielsweise mit einem Randstrich die folgende Stelle
markiert hat: „Man kannte den Menschen, aber nicht die Menschen, d. h. die
menschliche Natur im Allgemeinen, aber nicht die Individualitäten. Man drang
nicht in die Seele ein und erkannte daher auch nicht die unendliche Verschie-
denheit und die wunderbare Zusammensetzung der Seelen.“ (Taine 1878b-
1880b, 1, 8) Der Glaube an diese „unendliche Verschiedenheit“ mag N. gele-
gentlich wie eine romantische Fiktion vorgekommen sein.
21, 25-22,1 „Gemäss der Natur“ wollt ihr leben? Oh ihr edlen Stoiker, welche
Betrügerei der Worte! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwende-
risch ohne Maass, gleichgültig ohne Maass, ohne Absichten und Rücksichten,
ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiss zugleich,
denkt euch die Indifferenz selbst als Macht — wie könntet ihr gemäss dieser
Indifferenz leben?] Die berühmte Forderung der stoischen Ethik lautete in ihren
Anfängen, nämlich bei Zenon von Kition, noch lapidarer: „übereinstimmend
leben!“ („to öpoAoyoupEvmc; ^pv“. Johannes Stobaios: Eclogae II 75, 11), ver-
zichtete also auf die Heranziehung einer irgendwie der Person äußerlichen
oder ihr übergeordneten „Natur“. Allerdings blieb so auch unklar, in Überein-
stimmung womit man denn leben solle. Spätestens mit Kleanthes und Chrysipp
kam dann die Natur explizit ins Spiel. Bei Diogenes Laertius: De vitis VII 87-89
werden die verschiedenen Variationen der Formel vom naturgemäßen Leben
erörtert (im darauffolgenden Abschnitt VII 90 wird der Vergleich der Tugend
mit einer „Bildsäule“ erwähnt, den auch JGB 198 aufgreift, vgl. NK 118, 20-22).
In der stoischen Literatur kehrt die Formel unentwegt wieder (vgl. z. B. Marcus
Tullius Cicero: De legibus I 21, 56 u. II 4, 8 u. 10 sowie Epiktet: Encheiridion 4
u. 30 u. 49, dazu Brobjer 2003a, 440, vgl. Brobjer 2003b).
In dem von N. zu Rate gezogenen Buch Die Philosophie der Stoa von Georg
Peter Weygoldt (vgl. z. B. NK KSA 6, 216, 23 f.) wird dieser stoische Grundgedan-
ke wie folgt rekapituliert: „Die nächstliegende Antwort war die, dass der
Mensch mit sich selbst, mit seiner eigenen Natur in Übereinstimmung leben
müsse. Da jedoch nach der stoischen Grundanschauung der Mensch nur dann
das Richtige trifft, wenn er den Naturgesetzen gemäss handelt, unter die er
gestellt ist, so konnte man die Übereinstimmung mit sich selbst ebenso gut
auch Übereinstimmung mit der Natur des Ganzen nennen und also denjenigen
für glücklich erklären, welcher dieser Natur des Ganzen gemäss lebe und folg-
lich nichts thue, was mit dem Weltlauf, mit den Naturgesetzen oder, was für
 
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