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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0137
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Stellenkommentar JGB 9, KSA 5, S. 21 117

die Stoa dasselbe ist, mit dem Willen der Gottheit im Widerspruch steht. Dieses
naturgemässe und deshalb vernünftige Leben ist aber nichts anderes als das
tugendhafte Leben; die Glückseligkeit besteht daher, kurz gesagt, in der Tu-
gend.“ (Weygoldt 1883, 49, vgl. ebd., 186 sowie den von N. durchgearbeiteten
Kommentar des Simplikios zu Epiktets Encheiridion: Simplikios 1867, 136 u.
146). Später heißt es dann, „die Verwirklichung des Guten ist [...] /60/ ein Ge-
bot der Natur selbst“ (Weygoldt 1883, 59 f.), das von Weygoldt direkt mit Kants
Pflichtbegriff korreliert wird (ebd., 60).
Die Stoiker sind die erste Philosophenschule, der JGB einen eigenen Ab-
schnitt widmet, was vielleicht überrascht, da die Stoa ja eine Bewegung des
Hellenismus war, die trotz eines Wiederauflebens in der frühen Neuzeit in N.s
Gegenwart kaum noch explizite Anhänger hatte. Die in der oben mitgeteilten
Vorfassung von N VII 1 namhaft gemachten Gegner unter den (annähernden)
Zeitgenossen, nämlich Goethe und Taine, entfallen in der Druckfassung, so
dass der JGB-Leser sich selbst einen Reim darauf machen muss, wer denn im
19. Jahrhundert von der Kritik (mit)betroffen sein könnte. Begründet ist die
Auseinandersetzung mit den antiken Philosophen wesentlich im Interesse, ei-
nen von den Stoikern (aber etwa auch von dem in N VII 1 genannten Goethe
und von zahlreichen Philosophen und Naturwissenschaftlern des 19. Jahrhun-
derts) abweichenden Naturbegriff zu etablieren. Natur wird in JGB 9 nicht sto-
isch als Kosmos, als wohlbegründete, vernünftige Ordnung verstanden, der
sich der Mensch anzupassen hat, sondern als Chaos, als ein Jenseits des Ma-
ßes. Die Sprecherinstanz in JGB 9 scheint damit eine Kenntnis der Natur ,wie
sie wirklich ist* in Anspruch zu nehmen, über die zumindest ein überzeugungs-
freier skeptischer Philosoph kaum verfügen dürfte. Die Natur, die der stoischen
Vorstellung entgegengestellt wird, ist zutiefst amoralisch oder doch moralisch
indifferent.
Mit dem Begriff der Indifferenz nimmt JGB 9 ein wichtiges Lehrstück der
stoischen Ethik auf und wendet es gegen seine Erfinder. In der stoischen Ethik
galten seit Zenon von Kition die Dinge, die nicht unmittelbar zur Tugend bei-
trugen oder ihr hinderlich waren, als äöiacpopa, als gleichgültige Dinge (vgl.
Arnim 1903-1924, 1, 190-196) - eine Auffassung, die Chrysipp (vgl. Arnim
1903-1924, 3, 117-119 u. ö.) und spätere Stoiker noch verfeinerten. Indifferentia
(als Neutrum Plural) wird von Cicero als Übersetzung der äöiacpopa eingeführt
(Marcus Tullius Cicero: De finibus bonorum et malorum III 53), und beispiels-
weise von Seneca übernommen (Lucius Annaeus Seneca: Epistulae morales ad
Lucilium 82). Bei allen Lehrabschattungen hat der stoische Weise gegenüber
den für die Tugend indifferenten Dingen - zu denen das gemeinhin für wert-
voll Gehaltene wie Reichtum, Gesundheit oder Ruhm zählt - Indifferenz unter
Beweis zu stellen. Die stoische Ethik lässt sich insgesamt als Programm einer
 
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