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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0160
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140 Jenseits von Gut und Böse

Während Schopenhauer also bei der Beschreibung der unmittelbar zeitge-
nössischen Verhältnisse in der deutschen Philosophie zu Grobheiten seine Zu-
flucht nimmt, die viel über seine Kränkung verraten, mit dem eigenen Werk
(zunächst) nicht reüssiert zu haben, erzählt JGB 11 die Geschichte mit distan-
zierter Ironie: „man wurde älter, — der Traum verflog“. Fundamental unter-
scheidet sich diese Erzählung der Entwicklungsgeschichte der deutschen Phi-
losophie von derjenigen Schopenhauers dadurch, dass sie Kant nicht zum
leuchtenden Gegenpol des auf ihn folgenden Verfalls macht, sondern in Kant
bereits all das angelegt sieht, was im Deutschen Idealismus folgt. Kant ist also
bei N. nicht, wie für Schopenhauer, ein Befreier, sondern ein Gefängniswärter
der Philosophie. Und der distanzierte Blick schließt - zumindest in der Vorstu-
fe NL1885, KSA11, 34[82], 445 - auch Schopenhauer auf diesem Weg der philo-
sophischen Vermögensirrtümer mit ein. „Die kalte, nüchterne, überlegende
Vernunft, welche Kant so grausam kritisirt hatte, wurde zum Verstände de-
gradirt und mußte fortan diesen Namen führen: der Name der Vernunft aber
wurde einem gänzlich imaginären, zu Deutsch, erlogenen Vermögen beigelegt,
an dem man gleichsam ein in die supralunarische, ja übernatürliche Welt sich
öffnendes Fensterlein hatte, durch welches man daher alle die Wahrheiten
ganz fertig und zugerichtet in Empfang nehmen konnte, um welche die bisheri-
ge, altmodische, ehrliche, reflektirende und besonnene Vernunft sich Jahrhun-
derte lang vergeblich abgemüht und gestritten hatte. Und auf einem solchen,
völlig aus der Luft gegriffenen, völlig erlogenen Vermögen basirt sich seit fünf-
zig Jahren die Deutsche sogenannte Philosophie, erst als freie Konstruktion
und Projektion des absoluten Ich und seiner Emanationen zum Nicht-Ich, dann
als intellektuale Anschauung der absoluten Identität, oder Indifferenz, und ih-
rer Evolutionen zur Natur“ (Schopenhauer 1873-1874,1/1,123). Nahm Schopen-
hauer bei allem Gift, das er über seine Kollegen ausgoss, noch sehr wohl die
Binnendifferenzierungen im Begriffsrepertoire der Idealisten wahr, bleiben in
JGB 11 nur noch Stichworte wie „intellektuale Anschauung“, von denen der
Text keine klare Vorstellung vermittelt; stattdessen wird die Geschichte des
Denkens mit ironisch drapierten Elementen einer romantischen Erzählung
(„Honigmond“, „in die Büsche“, „Fee“, „Traum“) aufgehübscht, um die Rück-
frage nach begrifflichen Binnendifferenzierungen abzublocken: Agiert man da-
gegen wie Schopenhauer und nimmt diese „Begriffe“ ernst, tut man dieser phi-
losophischen Jugendbewegung fundamental „Unrecht“.
25, 18-26 Man hatte geträumt: voran und zuerst — der alte Kant. „Vermöge
eines Vermögens“ — hatte er gesagt, mindestens gemeint. Aber ist denn das —
eine Antwort? Eine Erklärung? Oder nicht vielmehr nur eine Wiederholung der
Frage? Wie macht doch das Opium schlafen? „Vermöge eines Vermögens“, näm-
lich der virtus dormitiva — antwortet jener Arzt bei Moliere, / quia est in eo virtus
 
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