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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0161
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Stellenkommentar JGB 11, KSA 5, S. 25 141

dormitiva, / cujus est natura sensus assoupire.] Das Spiel mit der romantischen
Traummetapher (vgl. 25, 17) wird fortgesetzt, aber zur Markierung des eigenen
Anti-Romantizismus mit dem Hinweis auf die physiologische Wirkung des Opi-
ums in eine naturwissenschaftliche Terminologie übersetzt. Der Einwand ge-
gen Kants Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a
priori wird hier nach langem Anlauf klar artikuliert: Kant machte sich, wie
schon die Stoiker in JGB 9 (vgl. NK 22, 7-22), einer petitio principii schuldig.
Eine Aufzeichnung von 1884/85, deren Hauptakzent auf der möglichen Be-
wusstseinsunabhängigkeit des Lebens lag, zog Kant, seine Frage, das Opium
und Moliere zunächst nur vergleichend heran: „An sich kann das reichste orga-
nische Leben ohne Bewußtsein sein Spiel abspielen: so bald aber sein Dasein
an das Mit-Dasein anderer Thiere geknüpft ist, entsteht auch eine Nöthigung
zur Bewußtheit. Wie ist diese Bewußtheit möglich? Ich bin fern davon, auf
solche Fragen Antworten (d. h. Worte und nicht mehr!) auszudenken; zur rech-
ten Zeit fällt mir der alte Kant ein, welcher einmal sich die Frage stellte: ,wie
sind synthetische Urtheile a priori möglich?4 Er antwortete endlich, mit wun-
derbarem »deutschem Tiefsinn4: ,durch ein Vermögen dazu4. — Wie kommt es
doch, daß das Opium schlafen macht? Jener Arzt bei Moliere antwortete: es ist
dies die vis soporifica. Auch in jener Kantischen Antwort vom Vermögen4 lag
Opium, mindestens vis soporifica: wie viele deutsche »Philosophen4 sind darü-
ber eingeschlafen!44 (NL 1884/85, KSA 11, 30[10], 356,14-27) Tatsächlich ist bei
Moliere nicht von einer „vis soporifica44, einer „einschläfernden Kraft“, son-
dern, wie es in JGB 11 korrekt heißt, von einer „virtus dormitiva“, einer „Schlaf-
tugend“ die Rede, die dem Opium innewohnen soll. Die von N. zitierte Stelle
findet sich in Molieres Le malade imaginaire (3ieme intermede, Entree de bal-
let), wo Bachelierus, danach gefragt, weshalb das Opium schlafen mache, in
Küchenlatein diese Antwort gibt: „weil in ihm die Kraft des Schlafens ist, deren
Wesen es ist, die Sinne einzuschläfern“. In N.s Bibliothek sind mehrere Komö-
dien Molieres überliefert, darunter aber nicht Le malade imaginaire (NPB 390
u. 392). John Stuart Mill benutzt in seinem System der deductiven und inducti-
ven Logik just dasselbe Moliere-Zitat, um den Trugschluss der petitio principii
zu illustrieren. „Niemand, der bei Sinnen ist, würde einen Satz als einen Folge-
satz aus sich selbst annehmen, wenn derselbe nicht in Worten ausgesprochen
würde, die ihn als einen verschiedenen erscheinen lassen. Eine der gewöhn-
lichsten Formen dieser Täuschung besteht demgemäß darin, daß man den in
abstracte Ausdrücke gekleideten Satz als Beweis für denselben Satz in concre-
ten Ausdrücken vorbringt. Dies ist eine sehr gewöhnliche Art nicht nur des
Schein-Beweises, sondern auch der Schein-Erklärung, und Moliere parodirt
dieselbe, wenn er einen seiner närrischen Aerzte sagen läßt“ - worauf die ge-
lehrte Frage samt gelehrter Antwort folgen (Mill 1869-1886, 217). Überhaupt
 
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