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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0174
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154 Jenseits von Gut und Böse

Die zweite auffällige Abweichung von JGB 13 zur Vorlage betrifft den gegen
Spinoza erhobenen Inkonsequenz-Verdacht: Während der in JGB 13 Sprechen-
de offensichtlich die richtigen Konsequenzen zieht (wenn auch aus etwas an-
derem Grund als in der Vorlage des Nachlasses), hat Spinoza dies zu tun ver-
säumt, indem er an einem Prinzip der conservatio sui festhielt, obwohl er sich
in seinem Natur- und Substanzverständnis doch gegen teleologische Projektio-
nen wehrte. FW 349, KSA 3, S. 585 f. - dort im Anschluss an Rolph 1884, vgl.
Sommer 2010b - arbeitet den Vorwurf gegen Spinoza noch weiter aus, wo sich
auch zeigt, dass es bei dem Gedanken der Selbsterhaltung keineswegs um die
philosophiegeschichtliche Aufarbeitung längst verblichener Theoriestücke,
sondern vielmehr um eine zu N.s Zeit höchst aktuelle Thematik ging, nämlich
um den Darwinismus. Mit der Idee, dass jedes Wesen nach Selbsterhaltung
strebe, gab Spinoza nach dieser Rekonstruktion den zeitgenössischen darwi-
nistischen Theorien einen wichtigen Theoriebaustein an die Hand. Während
sich im Nachlass Bekenntnisse zu Spinoza finden, etwa wenn „im Zusammen-
hang mit der antiteleologischen, d. h. spinozistischen Bewegung unserer Zeit“
argumentiert wird (NL 1884, KSA 11, 26[432], 266), beklagt JGB 13, dass Spinoza
der Antiteleologie nicht treu geblieben sei: Die „Inconsequenz Spinoza’s“ be-
steht demnach offensichtlich darin, trotz aller Programmatik in der Verabschie-
dung der Teleologie hinsichtlich der Selbsterhaltung bei einem Telos, einem
Zweck, nämlich einem zu erhaltenen Selbst verharrt zu sein. Rupschus/Steg-
maier 2009 vermuten in Adolf Trendelenburgs Abhandlung Über Spinoza’s
Grundgedanken und dessen Erfolg von 1849/50 die Quelle für die „Inconse-
quenz Spinoza’s“. N.s Spinoza-Gewährsmann Kuno Fischer setzte sich nicht
nur mit Trendelenburgs Abhandlung im Allgemeinen kritisch auseinander (Fi-
scher 1865, 2, 564-569), sondern griff vor allem das Teleologie-Verständnis sei-
nes einstigen Förderers an. Trendelenburg hatte formuliert: „Das einzelne
Ding, heisst es nämlich, kann nichts in sich haben, wodurch es sein Wesen
vernichtet, /39/ und kann nur von einer äussern Ursache zerstört werden (vgl.
eth. [sc. Spinoza: Ethik] III, 4 bis 6). Hierin ist nur die Kraft der Trägheit, die vis
inertiae und nichts mehr bewiesen; und die Selbstbehauptung einer wirkenden
Ursache kann auch keinen andern Sinn haben; denn es ist kein wahres Selbst
vorhanden. Aber Spinoza hat dessenungeachtet in jenem Streben, sich selbst
zu erhalten und die eigene Macht zu mehren, so wie in den Vorstellungen, die
sich in dieser Richtung erzeugen, mehr gedacht, als in diesen Praemissen liegt.
Es sind darin die Zwecke des individuellen Lebens vorausgesetzt, und erst da-
durch bekommt der Ausdruck, dass jedes Ding, soweit es in sich ist, in seinem
Wesen zu beharren strebe, wirkliche Bedeutung.“ (Trendelenburg 1850, 38 f.)
Nach Rupschus/Stegmaier 2009, 301 ist der Trendelenburg-Bezug bei N. da-
durch gegeben, dass Trendelenburg tatsächlich von „Inconsequenz“ bei Spino-
 
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