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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0176
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156 Jenseits von Gut und Böse

leologie zu überbieten, indem der Sprechende Spinoza unterstellt, insgeheim
die Teleologie zu restituieren.
Die dritte Abweichung von JGB 13 zur Vorlage NL 1885/86, KSA 12, 2[63],
89 ist schließlich der Schlusssatz mit der expliziten Exposition einer „Metho-
de“, die „wesentlich“ in „Principien-Sparsamkeit“ bestehen müsse. Diese me-
thodologische Sparsamkeit - gerne wegen ihres prominentesten mittelalterli-
chen Vertreters als „Ockham’s razor“ tituliert - hat ihre Wurzeln bereits in der
ontologischen Vorstellung einer Naturökonomie bei Aristoteles (vgl. z. B. Phy-
sik I 4, 188a 18 f.), was noch in der Formulierung Kants mitschwingt, die „Er-
sparung der Prinzipien“ sei „nicht bloß ein ökonomischer Grundsatz der Ver-
nunft, sondern inneres Gesetz der Natur“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen
Vernunft, B 678, vgl. zur lex parsimoniae auch die Einleitung zur Kritik der Ur-
theilskraft, AA 5, 182). JGB 13 nimmt also gegen die herkömmliche Philosophie
und ihre „Vorurtheile“ gerade ein methodisches Prinzip in Anspruch, das diese
selbst entwickelt hat, schlägt sie mit ihren eigenen Waffen, was dann am Bei-
spiel Spinozas auch direkt namhaft gemacht wird.
Die gedankenexperimentelle Kritik am angeblich universellen Selbsterhal-
tungstrieb, die bis in N.s Spätwerk hineinreicht - explizit gegen den Darwinis-
mus (vgl. GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 14, KSA 6, 120 f. u. NK 6/1,
S. 448-453) -, war schon vor dem Studium von Kuno Fischers Spinoza-Buch in
N.s Nachlass präsent. Deshalb liegt die Vermutung nahe, N. habe die Denkfigur
dieser Kritik gar nicht in Auseinandersetzung mit Spinoza entwickelt, sondern
sie erst sekundär - vielleicht nach wiederholter Fischer-Lektüre - auf ihn ap-
pliziert, wofür auch die Tatsache spricht, dass Spinoza in NL 1885/86, KSA 12,
2[63], 89 eben noch fehlte. So erschien in NL 1880, KSA 9, 3[149], 95, 17 f. der
„Selbsterhaltungstrieb“ als „ein Stück Mythologie“. NL 1880, KSA 9, 6[145],
234 explizierte näher, dass Herbert Spencer und Paul Emile Maximilien Littre
Anhänger dieser Mythologie seien, und dass es einen solchen Trieb nicht gebe,
der sich vielmehr nur aus der Suche nach dem Angenehmen und dem Vermei-
den des Unangenehmen erkläre (vgl. FW 109, KSA 3, 468, 22; NL 1881, KSA 9,
ll[108], 479). N. stand mit der von ihm erprobten Wendung gegen einen als
natürlich-universelle Gegebenheit gedachten Selbsterhaltungstrieb keineswegs
allein da. Das Studium von William Henry Rolphs Biologischen Problemen
konnte ihn in dieser Wendung bestärken (vgl. Rolph 1884, 72-97); dieses Werk
stand jedoch nicht am Anfang von N.s Spiel mit entsprechenden Positionierun-
gen (wie Moore 1998, 537 f. nahelegt. Rolph 1884 opponierte übrigens auch
teleologischem Denken). Prägend war früher schon Johann Julius Baumanns
Handbuch der Moral, wo N. im entsprechenden Abschnitt zahlreiche Lesespu-
ren hinterlassen hat (Baumann 1879, 125-130). Baumann begann mit der Be-
merkung, Philosophen wie Hobbes und Spinoza hätten „den Selbsterhaltungs-
 
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