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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0187
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Stellenkommentar JGB 15, KSA 5, S. 29 167

on von JGB 15 die Gegenposition, die „idealistische Philosophie“ heißt. Offen-
sichtlich ist damit an eine vorkantische Form des Idealismus gedacht, denn
gegen einen transzendentalen Idealismus wäre die Behauptung, „Sinnesorga-
ne“ als „Erscheinungen“ könnten nicht „Ursachen“ sein, gerade nicht stichhal-
tig: Kausalität, Ursachen- und Wirkungsverhältnisse sind ja das, was nach
Kant die von uns wahrgenommene Erscheinungswelt bestimmt. Kantianisch
gedacht sind wir gezwungen, die Erscheinungswelt als eine nach kausalen Ge-
setzmäßigkeiten funktionierende Welt zu betrachten, in der Sinnesorgane als
Erscheinungen sehr wohl Ursachen sein können. Die Physiologie mit regulativ-
sensualistischer Basis hat in ihrer hier aufgewiesenen Systemlogik gleichfalls
darauf zu bestehen, dass Sinnesorgane ursächlich sind - wobei offen bleibt,
wofür sie ursächlich sein sollen: Für Sinneseindrücke? Für Bewusstseinszu-
stände? Für ein intramentales Abbild einer extramentalen Welt? Oder doch
eher für das, was gemeinhin für die Außenwelt gehalten wird, aber nach man-
chen Prinzipialidealisten nichts weiter als eine Projektion der Innenwelt dar-
stellt? Die Vorstufe verrät mit dem Beispiel jedenfalls deutlicher als die Druck-
fassung die Rückkehr zum common sense in Erkenntnisfragen, wenn sie den
Sensualismus gleichfalls „als regulative Hypothese“ reklamiert, aber hinzu-
fügt: „wie wir sie im Leben haben. Kein Mensch hält ein Beefsteak für eine
Erscheinung“ (KSA 14, 350).
JGB 15 markiert zunächst also die Opposition gegen einen inkonsistenten,
übersteigerten Idealismus, der nicht bemerkt, dass er in Selbstwidersprüche
gerät, sobald er den Sinnesorganen die Fähigkeit zuschreibt, die Erscheinungs-
welt zu gestalten, wo doch die Sinnesorgane selbst zu dieser Erscheinungswelt
gehören. „Physiologie“ soll gegen idealistische Verlockungen die Sinnesorgane
nicht für Erscheinungen halten, sondern offenkundig für etwas Reales, was
„Ursache“ (wovon auch immer) sein kann. Genau dies - dass nämlich die Sin-
nesorgane Ursachen (unserer Erkenntnis) seien, ist die Grundoption des Sen-
sualismus. Sensualismus als Gegenmodell zum Idealismus impliziert in der be-
scheidenen, undogmatischen Gestalt einer „regulativen Hypothese“ auch den
Abschied von der überspannten Vorstellung, die Sinne als Erkenntnisorgane
brächten die Außenwelt erst hervor - eine Vorstellung, die einen dogmatischen
Sensualismus dem Idealismus annähert: Spiller 1876, 46-53 thematisiert die
mögliche enge Verbindung von Sensualismus und Idealismus, insofern sie die
Außenwelt für ein Produkt der Subjekts halten, im ersten Fall der Sinnesorga-
ne, im zweiten Fall des Bewusstseins.
Der zweite Teil von JGB 15 nimmt genau diese mögliche idealistische Verir-
rung des Sensualismus aufs Korn, um zu zeigen, dass Sensualismus eben nicht
mehr sein sollte als eine „regulative Hypothese“. Denn hält man tatsächlich
nicht nur eine allfällige Innenwelt, die Bewusstseinszustände, die Empfindun-
 
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