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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0193
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Stellenkommentar JGB 16, KSA 5, S. 30 173

so dass „auch das Ich als substanziale Einheit aller dieser Functionen uns ir-
gendwie bewusst werden“ soll. Schnell holte Teichmüller die philosophische
Tradition, der JGB 16 das Vertrauen aufkündigt, wieder ein, hätten wir doch
ein „Bewusstsein [...] von unserer substanzialen Einheit als Ich“, das „ganz
singulär“ sei und „nur auf uns selber“ passe. „Es ist daher apagogisch
bewiesen, dass der Begriff sich nicht bilden kann ohne das unmittelbare und
vom Begriffe verschiedene Bewusstsein vom Ich oder das Selbstbewusstsein.“
(Ebd., 105) Da überrascht es dann nicht, dass für Teichmüller „das Ich die erste
und einzige Substanz“ zu sein vermag, „die wir unmittelbar und in allen ihren
Thätigkeiten und in dem Inhalt ihrer Thätigkeit kennen“ (ebd., 129), „weil das
Bewusstsein eben unser Bewusstsein ist und wir als reale Wesen eine unmit-
telbare Erkenntniss von uns selbst haben“ (ebd., 320, vgl. NK 230, 6-10). JGB
16 benutzt wie Teichmüller die im Übrigen in der damaligen psychologischen
Literatur gängige Einteilung der Ich-Funktionen in Erkennen/Denken, Fühlen
und Wollen (vgl. Höffding 1887,109), um die Einheit des Ich als res cogitans zu
unterminieren, verweigert sich aber Teichmüllers Ausweg, in einem irgendwie
unmittelbaren Bewusstem doch noch eine Ich-Einheit zu begründen. Gerade
diese Einheit ist in JGB 16 nicht mehr begründbar. Wie in Otto Schmitz-Du-
monts Einheit der Naturkräfte zersetzt sich das scheinbar stabile, eine Ich in
radikaler Verzeitlichung seiner Zustände in eine Abfolge einander folgender
Iche: „Ebensowenig wie beseelten Monaden in Leibnitz’schem Sinne, ist hier
empfindenden Atomen, welche zuweilen für ein System des Monismus ausge-
geben werden, das Wort geredet worden; ebensowenig stabilen Persönlichkei-
ten als Geistern oder Gespenstern in mittelalterlichem Sinne. Von solchen sta-
bilen Persönlichkeiten weiss unsere Analyse nichts; im Gegentheil, es würde
derselben eher entsprechen, auch das lebendige Individuum in eine Unzahl
einander folgender Ich aufzulösen, von denen ein jedes nur einem einzigen
Momente in dem Leben eines Menschen entspricht. Das Ich ist vorab nur ein
grammatischer Begriff, zum Zwecke, um die verschiedenen Zustände des Be-
wusstseins auf ein einheitliches Subjekt zu beziehen; und deshalb von dersel-
ben Relativität als methaphysischer [sic] Begriff, wie die Individualität der
Dinge. Wollte man aus diesem Ich ohne weitere Einschränkung eine stabile
Substanz machen, so wäre dem zu widersprechen; denn jenes Ich ist eine
ebenso flüchtige Erscheinung, wie ein Einzelgedanke, eine Einzelempfin-
dung.“ (Schmitz-Dumont 1881, 167. N.s Unterstreichungen, doppelte Randan-
streichung von seiner Hand.) JGB 16 legt sich freilich nicht apodiktisch auf eine
solche Ich-Erosion durch Zustandsverzeitlichung fest, sondern räumt nur das
Vorurteil eines unmittelbaren Ich-Bewusstseins und einer spontanen Ich-Pri-
märursächlichkeit aus.
30,10-14 Genug, jenes „ich denke“ setzt voraus, dass ich meinen augenblickli-
chen Zustand mit anderen Zuständen, die ich an mir kenne, vergleiche, um
 
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