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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0194
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174 Jenseits von Gut und Böse

so festzusetzen, was er ist: wegen dieser Rückbeziehung auf anderweitiges „Wis-
sen“ hat er für mich jedenfalls keine unmittelbare „Gewissheit“.] Teichmüller
1882, 35 (zitiert in NK 29,18 f.) argumentierte, es gebe eine „Intuition“, die dank
Übung und Erfahrung auch komplexe Gegenstände zu erfassen vermöge, ja
sogar eine „intellectuelle Intuition“, für die die „Definition vieler Begriffe [...]
in Einer Anschauung“ verschmelze. 30, 10-14 macht demgegenüber darauf
aufmerksam, dass solche von Teichmüller als „intuitiv“ ausgegebenen Er-
kenntnisakte vielmehr hochkomplex, zusammengesetzt und vermittelt sind -
dass sich gerade die scheinbar intuitive Ich-Erkenntnis im eigenen Denken tat-
sächlich umständlichen Vermittlungsakten verdankt. In NL 1883, KSA 10,
7[153], 292f. exzerpierte N. aus Teichmüllers Werk: „Teichmüller p. 204 das Ich
vergleicht seinen ideellen Vorstellungsinhalt und findet das Bewußtsein
des Vorher (oder eines in der Erinnerung gegebenen Inhaltes) / Also bei al-
len Zeitempfindungen ist das Ich thätig. ,Die Akte Erinnerung Empfin-
dung und Erwartung unzeitlich zusammenfassen und vergleichen — das
ist Thätigkeit des Ich/“ Im Original lautet die fragliche Passage: „Vielmehr ist
es nur das Ich, das seinen ideellen Vorstellungsinhalt, unbekümmert um den
Inhalt selbst, nach seiner Beziehung zu der realen Thätigkeit, zu der er gehört,
vergleicht und dadurch das Bewusstsein des Vorher oder eines in der Erinne-
rung gegebenen Inhalts findet. / Durch den Charakter der Erinnerung wird nun
das Erinnerte als bloss Ideelles und Nichtseiendes dem Gegenwärtigen als
wirklichem Sein gegenüber gestellt und da diese Gegenüberstellung und Zu-
sammenfassung nur durch die Einheit des Ichs möglich ist, in welchem der
Unterschied des Ideellen und Wirklichen ebenso gesetzt wie aufgehoben ist,
so können wir also die Vorstellung des Nacheinander oder die Zeitanschauung
nur durch das Ich gewinnen. Mögen wir später, wenn der Begriff der Zeit erst
frei geworden und auf den ganzen ideellen Inhalt angewendet ist, noch so sehr
die Wiege dieses Begriffs vergessen; entsprungen und zuerst ausgebildet nach
ihren drei Dimensionen ist die Zeit erst durch die eigenthümliche
substanziale Einheit unseres Ichs, welches die Acte Erinne-
rung, Empfindung und Erwartung unzeitlich zusammenfas-
sen und vergleichen kann; denn nur wenn man den ideellen Inhalt
des Bewusstseins auf das in dem Ich convergirende Strahlenbüschel der Acte
bezieht, kann von einer andern als der logischen Ordnung der Vorstellungen,
nämlich von der perspectivischen Zeit Ordnung die Rede sein.“ (Teichmüller
1882, 204) Für Teichmüller soll also die Möglichkeit, in der Zeit verschiedene
Zustände seiner selbst miteinander zu vergleichen, den Beweis für ein substan-
tiell zu denkendes Ich erbringen, wie es JGB 16 und 17 gerade zurückweisen.
Dagegen argumentiert 30,10-14 aus dem empirischen Befund des Zustandsver-
gleichs dahingehend, dass der Vergleichende andere, nicht-denkende Zustän-
 
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