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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0202
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182 Jenseits von Gut und Böse

nach KGW VII 4/1, 118: „Die Widerlegbarkeit ist wahrlich nicht der geringste
Reiz einer Theorie.“) Textlich fast dem ersten Satz von JGB 18 entsprechen
dann dann Fassungen in NL 1882/83, KSA 10, 5[1]24, 190, 11 f. und NL 1883,
KSA 10, 12[1]156, 396,16 f. Auch wenn man das hier Postulierte nicht als rheto-
risch verkürzte Form einer elaborierten Falsifikationskonzeption (im Voraus-
griff auf Karl Popper) ansieht, die für jede (temporär) valable Theorie fordert,
dass man angeben kann, welche Befunde sie widerlegen würden, ist doch der
Gedanke bemerkenswert, dass (wissenschaftliche) Theorien hier nach ihrer
performativ-funktionalen Bedeutung hin klassifiziert werden: Es interessiert
nicht, ob eine Theorie wahr ist oder die Wirklichkeit möglichst adäquat wieder-
gibt, sondern vielmehr, welche Motivationskraft sie besitzt. Es interessiert, in-
wiefern von ihr eine das Denken anspornende Wirkung ausgeht, insofern sie
zum Widerspruch reizt.
31, 22-26 Es scheint, dass die hundertfach widerlegte Theorie vom „freien Wil-
len“ ihre Fortdauer nur noch diesem Reize verdankt immer wieder kommt
Jemand und fühlt sich stark genug, sie zu widerlegen.] Während die Keimtexte
von JGB 18 (vgl. NK 31, 21 f.) auf alle Erklärungen und Beispiele verzichten und
von der gnomischen Verknappung leben, sagt die Druckfassung nicht nur, auf
wen der „Reiz“ ausgeübt wird, nämlich auf „feinere Köpfe“, sondern bringt
auch noch ein Beispiel für eine angeblich widerlegte, aber augenscheinlich zu
immer neuer Widerlegung anregende Theorie bei, nämlich die Lehre von der
Willensfreiheit. Das bildet die Überleitung zu JGB 19, wo diese Theorie eben-
falls noch einmal verhandelt wird - also soll gezeigt werden, dass sich der hier
Sprechende zu den „feineren Köpfen“ zählt, sich „stark genug“ fühlt, das
längst Widerlegte noch einmal „zu widerlegen“.

19.
Vorüberlegungen zu der Analyse des scheinbar so einfachen, tatsächlich aber
so komplexen „Willens“ in JGB 19 finden sich in den Aufzeichnungen von 1884,
etwa in NL 1884, KSA 11, 27[65], 291: „Die gewöhnlichen Irrthümer: wir trauen
dem Willen zu, was zahlreiche und complicirte eingeübte Bewegungen er-
möglichen. Der Befehlende verwechselt sich mit seinen gehorsamen Werk-
zeugen (und deren Willen)“. Viel differenzierter sind die Ausführungen in NL
1885, KSA 11, 38[8], 606-608: „Der Wille. — In jedem Wollen ist eine Mehr-
heit von Gefühlen vereinigt: das Gefühl des Zustandes, von dem weg, das
Gefühl des Zustandes, zu dem hin, das Gefühl von diesem ,weg und hin‘
selber, das Gefühl der Dauer dabei, zuletzt noch ein begleitendes Muskel-Ge-
fühl, welches, auch ohne daß wir Arme und Beine in Bewegung setzen, durch
 
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