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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0204
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184 Jenseits von Gut und Böse

auf ,Ein Mal4 da ist und zu den allerhäufigsten, folglich „bekanntesten“ Erleb-
nissen gehört: der Wille, so wie ich ihn hier beschrieben habe — sollte man
es glauben, daß er noch niemals beschrieben worden ist? Daß das plumpe
Vorurtheil des Volks bisher noch in jeder Philosophie ungeprüft zu Recht be-
standen hat? Daß darüber, was ,wollen4 sei, es unter den Philosophen keine
Verschiedenheit der Meinung gab, weil alle glaubten, hier gerade habe man
eine unmittelbare Gewißheit, eine Grund-Thatsache, hier sei Meinen gar nicht
am Platze? Und daß alle Logiker noch die Dreieinigkeit,Denken, Fühlen, Wol-
len4 lehren, wie als ob »Wollen4 kein Fühlen und Denken enthalte? — Nach
alledem erscheint Schopenhauers großer Fehlgriff, als er den Willen wie die
bekannteste Sache von der Welt, ja wie die eigentlich und allein bekannte Sa-
che nahm, weniger toll und willkürlich: er hat ein ungeheures Vorurtheil aller
bisherigen Philosophen, ein Volks-Vorurtheil, nur übernommen und, wie es im
Allgemeinen Philosophen thun, übertrieben. —44 Dieser Niederschrift, die
N. diktiert und korrigiert hat, liegt eine frühere Fassung zugrunde, deren Ab-
weichungen in KGW VII 4/2, 463-466 dokumentiert sind, während sie diplo-
matisch-differenziert transkribiert in KGW IX 4, W I 3, 102 f. und 100 f. (N. be-
schrieb das Notizbuch von hinten nach vorn) nachgelesen werden können. Die
wesentlichen Elemente der Argumentation von JGB 19 sind hier bereits voll
ausgeprägt: Die Komplexität des Wollens, das Fühlen, Denken und Affekt in
sich schließt; die Vorstellung der Widerstandsüberwindung im Schema von Be-
fehl und Gehorsam; die Illusion des freien Willens und des Glaubens an die
Notwendigkeit einer Wirkung des Willens. Eingepasst wird JGB 19 in den the-
matischen Großrahmen des Ersten Hauptstücks aber dadurch, dass die erst
zum Schluss von NL 1885, KSA 11, 38[8] platzierten Einwände gegen die Naivi-
tät „der“ Philosophen und namentlich Schopenhauers in der Druckfassung
prominent an den Anfang rücken.
Müller-Lauter 2000, 31 f., Fn. 103 interpretiert mit Winchester 1991, 45 f.
JGB 19 als Beleg für „Nietzsches Gedanken der Pluralität von Machtwillen“ und
wendet sich damit gegen Heidegger, der die Vielheit der Willenselemente in
N.s Text wiederum einer ursprünglichen Gefühlseinheit untergeordnet sehen
wollte. Heidegger 1961, 2, 48-66 interpretierte JGB 19 ausführlich in diesem
Sinn. Müller-Lauter 2000, 86-88 zeigt exemplarisch, wie sehr Heidegger hier
N.s Text seinen eigenen philosophischen Wünschen anverwandelte. Allerdings
ist es gleichfalls hermeneutisch problematisch, in JGB 19 den Gedanken einer
„Pluralität von Machtwillen“ zu sehen, da zwar landläufig als Machtobliegen-
heiten rubrizierbare Themen wie Gehorsam und Befehl und Stichworte wie
„Gesellschaftsbau“ (33, 26) oder „Herrschafts-Verhältnisse“ (34, If.) vorkom-
men, jedoch eigentlich nur von der Pluralität des Willens selbst gehandelt
wird. Daraus kann eine Fundamentalkritik am Konzept des „Willens zur
 
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