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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0225
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Stellenkommentar JGB 22, KSA 5, S. 36 205

scharfer u. grausamer Psychologie.) Man hält Vorträge über diesen Roman: der
endlich einmal wieder ,Kammermusik-Litteratur‘ ist und nichts für die Menge.
Deutscherseits sagt man von ihm, wie ich höre, ein ,Fäulnißprodukt‘.“ (KSB 7/
KGB III/3, Nr. 684, S. 171, Z. 23-31. Auch mit Paul Lanzky korrespondierte N.
über Bourgets Roman, siehe Lanzkys Brief an N. von Anfang Mai 1886, KGB III
4, Nr. 371, S. 165, Z. 16-24.) In GM III 26, KSA 5, 408, 12 kehrt die „religion de
la souffrance“ als „Firma“ wieder. Vgl. NK 236, 5-10 u. NK KSA 6, 172, 28 f.
22.
Vorüberlegungen zu JGB 22 finden sich in NL 1885, KSA 11, 40[55], 655: „Die
Gesetzmäßigkeit der Natur ist eine falsche humanitäre Auslegung. Es
handelt sich um eine absolute Feststellung der Machtverhältnisse, um die gan-
ze Brutalität, ohne die Milderung, welche im organischen Leben das Voraus-
nehmen der Zukunft, die Vorsicht und List und Klugheit, kurz der Geist mit
sich bringt. Die absolute Augenblicklichkeit des Willens zur Macht regirt; im
Menschen (und schon in der Zelle) ist diese Feststellung ein Prozeß, der bei
dem Wachsthum aller Betheiligten sich fortwährend verschiebt — ein Kampf,
vorausgesetzt, daß man dies Wort so weit und tief versteht, um auch das Ver-
hältniß des Herrschenden zum Beherrschten noch als ein Ringen, und das Ver-
hältniß des Gehorchenden zum Herrschenden noch als ein Widerstreben zu
verstehen.“ In der unredigierten Fassung findet sich diese Überlegung in KGW
IX 4, W17, 44, wo überdies einige in KSA 12 fehlende Notizen über „falsche r[...]
schlechte'' Interpretationskünste“ sowie zur Unterscheidung von „Text“ und
„Interpretation“ den Weg für JGB 22 bereiten.
Manche zeitgenössischen Leser scheint JGB 22 schockiert zu haben, so N.s
ehemaligen Basler Hörer, den Komponisten und Philosophen Paul Heinrich
Widemann, wie aus dessen Brief vom 18. 08.1886 an Köselitz hervorgeht (vgl.
NK 26,17-22): „N° 22. die Betrachtung der Physik als Ausfluß pöbelmännischen
Demokratismus! Edmund von Hagen übertroffen! Was muß der gute N. von
einem Naturgesetz für einen Begriff haben! Don Quijote und die Windmühlen.
Ich bedaure solchen verfluchten lüderlichen Blödsinn bei einem solchen Men-
schen. [...] Es thut mir leid, an N. eine Seite wahrnehmen zu müssen, die ich
nie an ihm zu finden glaubte, die der Pfuscherei, aber ich fürchte fast, es ist
noch etwas Schlimmeres. Mein Vertrauen in seinen Geist ist erschüttert, und
auch das in sein ,intellectuelles Gewissen/ Ein Nietzsche darf nicht schmieren
wie Hagen. Im Grunde aber sind diese erkenntnißtheoretischen Aphorismen
glänzend stilisirte Garnichtsen, auf der Straße im Bummeln oder beim Lesen
aufgehaschte und niedergestenographirte, später etwas verbreiterte und dazu
salon- und reisefertig aufgeputzte Augenblickseinfälle ohne Gründlichkeit,
 
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