Stellenkommentar JGB 22, KSA 5, S. 37 207
gischem Selbstverständnis auch Benne 2015, 43). Die landläufige Unterschei-
dung von Text und Interpretation war in N.s intellektuellem Milieu sehr geläu-
fig. So polemisierte N.s enger Freund Franz Overbeck in einer unter N.s Bü-
chern erhaltenen kirchenhistorischen Abhandlung gegen Kollegen, die einen
Text „einer Interpretation zu unterwerfen [pflegen], die, weil sie mehr darauf
aus ist, ungeschriebene ,Thesen4 daraus zu extrahiren, als unmittelbar überlie-
ferte Thatsachen ([...]), so oft in der Lage ist, über den schlichten Wortsinn
hinauszugehen“ (Overbeck 1880, 97). Der Eingang von JGB 22 lebt von der Po-
larisierung zwischen „Philologe“ und „Physiker“, wobei ganz gegen die Erwar-
tung des damaligen Publikums (siehe die oben in NK ÜK JGB 22 mit geteilte
Reaktion von Widemann) die Philologie als die eigentliche Wissenschaft insze-
niert wird, während die Physik als ein mythologisches Unternehmen erscheint,
das die Wirklichkeit nach eigenen Werturteilen zurechtbiegt, anstatt sie ein-
fach nur als „Thatbestand“ zu erheben. Allerdings zehrt JGB 22 auch davon,
dass gleich in der ersten Zeile ein sprechendes Ich auftritt, das mit Personen
in der zweiten Person Plural (37, 32) den Dialog sucht und das von ihm Gesagte
dezidiert als eigene Position und nicht als objektive Wahrheit, eben, wie es in
37, 31 f. heißt, als „nur Interpretation“ kennzeichnet.
Der Vorwurf an die Adresse der „Physiker“, sie läsen in die Natur Gesetze
hinein, mit denen sie ihre demokratischen Instinkte befriedigen könnten, geht
auf Überlegungen von Otto Liebmann zurück, der gegen den „Vitalismus“ und
die Rede von der „Lebenskraft“ zu Felde zog: „Das ganze Getriebe des Lebens
sollte erklärt werden durch die Annahme einer specifisch organischen Kraft.
Man ertheilte der Pflanze und dem Thier eine privilegirte, exemtionelle aristo-
kratische Stellung, wie den Bewohnern eines Freihauses, und verstieß damit
gegen den in der Natur herrschenden demokratischen Grundsatz der durch-
gängigen Gleichheit vor dem Gesetz. Vor dem Naturgesetz gilt, wie vor Gott,
kein Ansehen der Person.“ (Liebmann 1880, 333. N.s Unterstreichungen, am
Rande von ihm mit „NB“ markiert.) Liebmann begründet also seine Parteinah-
me gegen den Vitalismus unter Zuhilfenahme einer politischen Metapher, wo-
bei er sich auf die Seiten des „demokratischen Grundsatzes“ schlägt und den
vitalistischen Aristokratismus zurückweist: „Denn daß die Gesetze der Mecha-
nik, Physik, Chemie im organischen Leibe ebenso unwandelbar gültig bleiben
wie draußen im anorganischen Naturproceß, ist gewißermaaßen eine logi-
sche Wahrheit.“ (Ebd., 334. Von N. mit Randstrich markiert.) JGB 22 bietet
wiederum probeweise eine Neuauflage des Vitalismus, substituiert „Lebens-
kraft“ mit „Willen zur Macht“ und begründet die Zurückweisung des naturge-
setzlichen Denkens nicht etwa erkenntnistheoretisch - woher sollen wir wis-
sen, ob sogenannte Naturgesetze tatsächlich unter allen möglichen Bedingun-
gen gelten? -, sondern mittels Umdeutung von Liebmanns politischer
gischem Selbstverständnis auch Benne 2015, 43). Die landläufige Unterschei-
dung von Text und Interpretation war in N.s intellektuellem Milieu sehr geläu-
fig. So polemisierte N.s enger Freund Franz Overbeck in einer unter N.s Bü-
chern erhaltenen kirchenhistorischen Abhandlung gegen Kollegen, die einen
Text „einer Interpretation zu unterwerfen [pflegen], die, weil sie mehr darauf
aus ist, ungeschriebene ,Thesen4 daraus zu extrahiren, als unmittelbar überlie-
ferte Thatsachen ([...]), so oft in der Lage ist, über den schlichten Wortsinn
hinauszugehen“ (Overbeck 1880, 97). Der Eingang von JGB 22 lebt von der Po-
larisierung zwischen „Philologe“ und „Physiker“, wobei ganz gegen die Erwar-
tung des damaligen Publikums (siehe die oben in NK ÜK JGB 22 mit geteilte
Reaktion von Widemann) die Philologie als die eigentliche Wissenschaft insze-
niert wird, während die Physik als ein mythologisches Unternehmen erscheint,
das die Wirklichkeit nach eigenen Werturteilen zurechtbiegt, anstatt sie ein-
fach nur als „Thatbestand“ zu erheben. Allerdings zehrt JGB 22 auch davon,
dass gleich in der ersten Zeile ein sprechendes Ich auftritt, das mit Personen
in der zweiten Person Plural (37, 32) den Dialog sucht und das von ihm Gesagte
dezidiert als eigene Position und nicht als objektive Wahrheit, eben, wie es in
37, 31 f. heißt, als „nur Interpretation“ kennzeichnet.
Der Vorwurf an die Adresse der „Physiker“, sie läsen in die Natur Gesetze
hinein, mit denen sie ihre demokratischen Instinkte befriedigen könnten, geht
auf Überlegungen von Otto Liebmann zurück, der gegen den „Vitalismus“ und
die Rede von der „Lebenskraft“ zu Felde zog: „Das ganze Getriebe des Lebens
sollte erklärt werden durch die Annahme einer specifisch organischen Kraft.
Man ertheilte der Pflanze und dem Thier eine privilegirte, exemtionelle aristo-
kratische Stellung, wie den Bewohnern eines Freihauses, und verstieß damit
gegen den in der Natur herrschenden demokratischen Grundsatz der durch-
gängigen Gleichheit vor dem Gesetz. Vor dem Naturgesetz gilt, wie vor Gott,
kein Ansehen der Person.“ (Liebmann 1880, 333. N.s Unterstreichungen, am
Rande von ihm mit „NB“ markiert.) Liebmann begründet also seine Parteinah-
me gegen den Vitalismus unter Zuhilfenahme einer politischen Metapher, wo-
bei er sich auf die Seiten des „demokratischen Grundsatzes“ schlägt und den
vitalistischen Aristokratismus zurückweist: „Denn daß die Gesetze der Mecha-
nik, Physik, Chemie im organischen Leibe ebenso unwandelbar gültig bleiben
wie draußen im anorganischen Naturproceß, ist gewißermaaßen eine logi-
sche Wahrheit.“ (Ebd., 334. Von N. mit Randstrich markiert.) JGB 22 bietet
wiederum probeweise eine Neuauflage des Vitalismus, substituiert „Lebens-
kraft“ mit „Willen zur Macht“ und begründet die Zurückweisung des naturge-
setzlichen Denkens nicht etwa erkenntnistheoretisch - woher sollen wir wis-
sen, ob sogenannte Naturgesetze tatsächlich unter allen möglichen Bedingun-
gen gelten? -, sondern mittels Umdeutung von Liebmanns politischer