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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0232
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212 Jenseits von Gut und Böse

fembleibt, der es — kann!] Die neue Psychologie, die als „Physio-Psychologie“
dezidiert das Körperliche miteinbegreift, fängt mit ihrem Geschäft beim Psy-
chologen selbst an, den sie von Vorurteilen befreit, bei denen es sich um mora-
lische Vorurteile handelt. Damit wird jener Prozess parallelisiert, dem sich die
„Philosophen“ unterziehen, wenn sie das Erste Hauptstück von JGB selbstthe-
rapeutisch lesen, um sämtliche herkömmliche Gewissheiten zu verabschieden.
All das, was bislang als negativer Affekt, als Laster galt, wird nun für „lebens-
bedingend“ ausgegeben - ohne dass der diagnostizierende Psychologe indes-
sen über das Feld der Mutmaßung tatsächlich hinauskäme, denn seine Gegen-
thesen zur Beschaffenheit des Wirklichen bleiben im hypothetischen Modus.
Wesentlich für das Selbstverständnis der neuen Wissenschaft ist aber, dass sie
nicht bloß Gestaltungen und Entwicklungen beschreiben soll, sondern prak-
tisch zu werden, nämlich der Lebenssteigerung zu dienen hat - ein Zweck, der
womöglich nur durch die Steigerung der vorgeblichen Laster erreicht werden
kann. Mit dieser Klimax werden die Vorurteile der Philosophen, denen das
Hauptstück gewidmet ist, auf die letzte, äußerste Probe gestellt, hätten sie sich
doch stets als Sachwalter der Moral und damit der Tugenden verstanden, die
wiederum mit der Präferenzumkehr von JGB 23 in den Verdacht der Lebens-
schädlichkeit geraten.
38, 29-39, 9 Andrerseits: ist man einmal mit seinem Schiffe hierhin verschla-
gen, nun! wohlan! jetzt tüchtig die Zähne zusammengebissen! die Augen aufge-
macht! die Handfest am Steuer! — wir fahren geradewegs über die Moral weg,
wir erdrücken, wir zermalmen vielleicht dabei unsren eignen Rest Moralität, in-
dem wir dorthin unsre Fahrt machen und wagen, — aber was liegt an uns!
Niemals noch hat sich verwegenen Reisenden und Abenteurern eine tiefere
Welt der Einsicht eröffnet: und der Psychologe, welcher dergestalt „Opfer
bringt“ — es ist nicht das sacrifizio dell’intelletto, im Gegentheil! — wird zum
Mindesten dafür verlangen dürfen, dass die Psychologie wieder als Herrin der
Wissenschaften anerkannt werde, zu deren Dienste und Vorbereitung die übrigen
Wissenschaften da sind. Denn Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den
Grundproblemen.] Gerade in abschließenden Gedankenfiguren hat N. eine
Schwäche für die Schifffahrtsmetaphorik, die sich in JGB 23 im Motiv der See-
krankheit (38, 25) und damit im Taumeln des Denkens angesichts all der an-
geblich grundstürzenden neuen Einsichten ankündigt. Am prominentesten ist
unter diesen Abschlussfiguren der letzte Aphorismus der Morgenröthe, wo die
Schifffahrt zur Luftschifffahrt gesteigert wird (M 575, KSA 2, 331, vgl. auch FW
289, KSA 3, 529 f.). In JGB 23 bietet die Schifffahrtsmetapher den Ausblick auf
eine neue Integrations- und Leitwissenschaft, die alle anderen Disziplinen in
sich schließt.
 
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