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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0238
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218 Jenseits von Gut und Böse

moralische Dimension der Suche nach Wahrheit und fragt: „Ist Scepsis der
Moral nicht ein Widerspruch, insofern die höchste Verfeinerung der morali-
schen Ansprüche hier gerade aktiv ist: sobald der Sceptiker diese feinen Wert-
habschätzungen des Wahren nicht mehr als maaßgebend fühlt, so hat er kei-
nen Grund mehr zu zweifeln und zu forschen: es müßte denn der Wille
zum Wissen noch eine ganz andere Wurzel haben als die
Wahrhaftigkeit.“ (NL 1885, KSA 11, 35[5], 510, 28-511, 4, entspricht KGW
IX 4, W I 3, 132, 36-48). In der zweiten Aufzeichnung erinnerte N. an sein
Frühwerk und das (apollinische) Konzept einer Scheinwelt sowie an den
Kunstcharakter dieser Welt: „Der unbedingte Wille zum Wissen, zur Wahr- und
Weisheit erschien mir in einer solchen Welt des Scheins als Freveln an (dem}
metaphysischen Grundwillen, als Wider-Natur“ (NL 1885/86, KSA 12, 2[119],
121, 5-8, entspricht KGW IX 5, W I 8, 110, 21-24). Während der von Foucault
benutzte französische Ausdruck „volonte de savoir“ im 19. Jahrhundert durch-
aus ohne philosophischen Anspruch schon da und dort gebraucht wurde, war
der „Wille zum Wissen“ der terminus technicus eines Philosophen, dessen
Schriften N. 1887 ausdrücklich empfahl, „als antipessimistische Kost, nament-
lich um seiner elegantiae psychologicae willen“ - nämlich des „alten Brumm-
kreisel[s] Bahnsen“ (FW 357, KSA 3, 601, 26-31). In seinem N. wohlbekannten
Hauptwerk Der Widerspruch im Wissen und Wesen der Welt gab Julius Bahnsen
sich voller Vorbehalte gegenüber seiner früheren „realdialektischen“ Verwen-
dung des Begriffs „Willen zum Wissen“ (Bahnsen 1882,1,162). Verwendet wer-
den könne dieser Begriff - gelegentlich analogisiert mit Schopenhauers „meta-
physische [m] Bedürfniss“ (Bahnsen 1882, 2, 138) - nur, wenn man ihm einen
Gegenbegriff zur Seite stellt: „Die intellectträchtige Henade, wie wir das
empfindungbegabte Atom, das materielle Urtheilchen nach seiner inneren Da-
seinsseite lieber nennen, ist als solche noch lange nichts potentiell Vernünfti-
ges, oder latent Logisches. Was sich darin bethätigt, ist zunächst nur Wille
zum Wissen, aber, am Ziele angelangt, ebenso sehr ein Wille zum Nichtwis-
sen.“ (Bahnsen 1882,1,164) Bahnsen kannte ebenso einen „Willen zum Leben“
wie einen „Willen zum Nichtleben“ (Bahnsen 1882, 2, 421). „Wenn aber die
eigentliche Nothwendigkeit des Sterbens in diesem Doppelantagonismus zu
suchen ist, dann versteht sich auch ganz von selber das tiefe Aufschaudern
vor allem Tode — eigenem wie fremdem — als das Widerstreben des Bewusst-
seins gegen diese Rückkehr ins unbewusste Sein, und die Ahnung wie der Wil-
le zum Wissen, in tiefinnerstem Grunde, ebensosehr ein Wille zum Nichtwissen
ist, hat ja zu ewiger Allgemeingültigkeit Schiller seine [sic] ,Kassandra4 einge-
geben.“ (Ebd., 422) Man solle freilich nicht „gleich vorneweg den Willen zum
Leben [...] als einen Willen zum Wissen“ deklarieren (ebd., 394), sondern ihre
dialektische Vermittlung abwarten.
 
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