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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0239
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Stellenkommentar JGB 24, KSA 5, S. 41 219

Während Bahnsen mit einem dynamischen Dualismus zwischen „Wille
zum Wissen“ und „zum Nichtwissen“ operierte, die als gleichursprünglich und
gleichmächtig erscheinen, modifiziert JGB 24 dieses Schema dahingehend,
dass der „Wille zum Wissen“ dem „Willen zum Nicht-wissen“ sowohl genetisch
als auch in der Wertigkeit untergeordnet wird, so dass ersterer nur als epheme-
rer Ausfluss des letzteren erscheint. Dass der Abschnitt das Hilfsverb „dürfen“
gebraucht, um das Verhältnis von „Wissenschaft“ und „Grund von Unwissen-
heit“ zu beschreiben, unterstreicht die vollständige Abhängigkeit des Wissen-
Wollens von etwas ihm Vorausgehenden: Nur von Gnaden dieses „Grundes“ ist
es Wissenschaft überhaupt erlaubt zu entstehen. Bahnsens realdialektischem
Modell hält JGB 24 eine monistische Konzeption entgegen (vgl. NK 41, 26-42,
4), die gerade keine Gegensatzdialektik anerkennt und überhaupt dem Begriff
des Gegensatzes entkommen will. Die in 41, 14-18 artikulierte These, dass das
Wissen-Wollen bloß etwas Sekundäres, Abgeleitetes sei, ist ein bewusst insze-
nierter Gegensatz zur vorherrschenden philosophischen Tradition seit Sokra-
tes. Der Witz dieser Inszenierung eines solchen Gegensatzes liegt darin, dass
JGB 24 im Folgenden die Annahme, es gäbe Gegensätze, radikal problemati-
siert. Wäre die These von 41, 14-18 dann tatsächlich nur die „Verfeinerung“
des althergebrachten sokratischen Glaubens an die Ursprünglichkeit und Un-
bedingtheit des Wissensstrebens?
Dass der Mensch nicht natürlicherweise mit einem „Willen zum Wissen“
ausgestattet zu sein braucht, war eine Vermutung, die N. bei der Lektüre der
Briefe des Abbe Galiani wiederholt vor Augen geführt wurde: „Voltaire a raison;
l’homme a cinq Organes bätis expres pour lui indiquer le plaisir et la douleur;
il n’en a pas un seul pour lui marquer le vrai et le faux d’aucune chose. II n’est
donc fait ni pour connaitre le vrai, ni pour etre trompe; cela est indifferent. II
est fait pour jouir ou pour souffrir. Jouissons, et tächons de ne pas souffrir;
c’est notre lot“ (Galiani 1882, 1, 144. „Voltaire hat recht; der Mensch hat fünf
Sinnesorgane, die absichtlich so gebaut sind, um ihm das Vergnügen und den
Schmerz anzuzeigen; er hat keinen einzigen, um ihm das Wahre und das Fal-
sche einer Sache zu erschließen. Er ist also weder geschaffen um die Wahrheit
zu kennen, noch um getäuscht zu werden; das ist gleichgültig. Er ist geschaf-
fen um zu genießen oder um zu leiden. Genießen wir und bemühen wir uns,
nicht zu leiden; das ist unser Schicksal“).
41, 14 f. auf diesem nunmehr festen und granitnen Grunde von Unwissenheit]
Die Metapher vom Grund aus Granit, die von der erheblichen Härte (und der
immensen Verbreitung) dieses Gesteins zehrt, bemüht beispielsweise auch JGB
231, KSA 5, 170, 7 sowie NL 1885, KSA 12, l[202], 56, 4-7 (entspricht KGW IX 2,
N VII 2, 53, 1-8): „Es giebt etwas Unbelehrbares im Grunde: einen Granit von
fatum, von vorausbestimmter Entscheidung im Maaße und Verhältniß zu uns
 
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