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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0243
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Stellenkommentar JGB 25, KSA 5, S. 42 223

nur, weil JGB 25 nicht allein mit der „Tragödie“ (43, 27), sondern auch mit dem
„Satyrspiel“ und der „Nachspiel-Farce“ (43, 24) enden wird, selbst stellenweise
ins Burleske hinüberspielt und den „philosophische[n] Humor“ (43, 14) nicht
verlieren will. Der Einstieg überrascht auch, weil JGB 24 mit seinem General-
verdacht gegen adäquate Wirklichkeitsperzeption kaum Anlass zu Fröhlichkeit
gab. Dessen allererster Satz - „0 sancta simplicitas!“ (41, 4) - erinnerte nicht
an etwas Fröhliches, sondern an ein anderes Martyrium im Namen der Wahr-
heit, das des böhmischen Frühreformators Jan Hus (vgl. NK 41, 4).
42, 7-18 Seht euch vor, ihr Philosophen und Freunde der Erkenntniss, und hütet
euch vor dem Martyrium! Vor dem Leiden „um der Wahrheit willen“! Selbst vor
der eigenen Vertheidigung! Es verdirbt eurem Gewissen alle Unschuld und feine
Neutralität, es macht euch halsstarrig gegen Einwände und rothe Tücher, es ver-
dummt, verthiert und verstiert, wenn ihr im Kampfe mit Gefahr, Verlästerung,
Verdächtigung, Ausstossung und noch gröberen Folgen der Feindschaft, zuletzt
euch gar als Vertheidiger der Wahrheit auf Erden ausspielen müsst: — als ob
„die Wahrheit“ eine so harmlose und täppische Person wäre, dass sie Vertheidi-
ger nöthig hätte!] Die Vorstellung, wonach das Martyrium, die Aufopferung in
irgendeiner Weise die Wahrheit jener Sache beweise, für die der Märtyrer ein-
tritt, weist später auch AC 53 schroff zurück, was sich ganz auf der Linie von
N.s »aufgeklärten4 Lektüren bewegt (Renan 1866, 146; Renan 1899, 317; dazu
Houssaye 1886, 109-111; Schneider o.J. [1880], 76; Guyau 1885, 128 u. Guyau
1909, 285, vgl. die Nachweise im Einzelnen in NK KSA 6, 234, 16-18). Frühere
Texte N.s waren jedoch aus der geschlossenen intellektuellen Front gegen die
Martyrien ausgeschert. M 18 erwog die weltgeschichtliche Bedeutung der Mär-
tyrer, wobei statt der Christen die Philosophen als befreiende Geister hinge-
stellt wurden: „Jeder kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des
persönlich gestalteten Lebens ist von jeher mit geistigen und körperlichen Mar-
tern erstritten worden: nicht nur das Vorwärts-Schreiten, nein! vor Allem das
Schreiten, die Bewegung, die Veränderung hat ihre unzähligen Märtyrer nöthig
gehabt [...]. Nichts ist theurer erkauft, als das Wenige von menschlicher Ver-
nunft und vom Gefühle der Freiheit, welches jetzt unseren Stolz ausmacht.“
(KSA 3, 31, 20-25 u. 31, 33-32, 1) Das Rollenmodell des philosophischen Märty-
rers nimmt die Vorstellung von der Welt als Leiden auf, die N. von Schopen-
hauer her wohlvertraut war, modifiziert aber das Verständnis von Philosophie:
Entgegen dem landläufigen philosophischen Selbstverständnis wird die Philo-
sophie nicht mehr als Therapeutikum, als eine Technik der Leidensverminde-
rung und Leidensvermeidung verstanden, sondern als eine Macht, die ihren
Anhängern die Blutzeugenschaft abverlangt. Wenn die Philosophie es wert ist,
für sie zu sterben, dann ist sie auf Augenhöhe mit dem Christentum und kann
mit ihm ernsthaft, in existenzieller Ernsthaftigkeit konkurrieren. Als Repräsen-
 
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