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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0250
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230 Jenseits von Gut und Böse

und schaut dennoch neugierig durch das goldne Gitterwerk, mit dem er sein
Reich umzäunt hat?“ In dieser Aufzeichnung ist aber die Blickrichtung genau
entgegengesetzt: Von außen versuchen Unberufene, Nicht-Auserlesene einen
Blick auf das arkane Innenleben jenes Ausnahmegeistes zu erhaschen, wäh-
rend es in JGB 26 einem solchen Menschen gerade unendlich schwer fällt, den
Weg aus seinem reichen Inneren in die häßliche Außenwelt der Gewöhnlich-
keit zu beschreiten. In dieser Fassung erinnert N.s Metaphernwahl an die be-
kannte Charakterisierung des Solipsismus oder des „theoretischen Egoismus“
in Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung (1. Bd., 2. Buch, § 19) als „klei-
ne Gränzfestung, die zwar auf immer unbezwinglich ist, deren Besatzung aber
durchaus auch nie aus ihr herauskann, daher man ihr vorbeigehen und ohne
Gefahr sie im Rücken liegen lassen darf“ (Schopenhauer 1873-1874, 2,125). Für
den Erkennenden ist es notwendig, wie JGB 26 im Folgenden deutlich macht,
dass er nicht immerfort „still und stolz auf seiner Burg versteckt“ (44, 8) bleibt,
sondern die Konfrontation mit der Empirie des Anders-Menschlichen zu su-
chen.
44, 3-13 Wer nicht im Verkehr mit Menschen gelegentlich in allen Farben der
Noth, grün und grau vor Ekel, Überdruss, Mitgefühl, Verdüsterung, Vereinsamung
schillert, der ist gewiss kein Mensch höheren Geschmacks; gesetzt aber, er nimmt
alle diese Last und Unlust nicht freiwillig auf sich, er weicht ihr immerdar aus
und bleibt, wie gesagt, still und stolz auf seiner Burg versteckt, nun, so ist Eins
gewiss: er ist zur Erkenntniss nicht gemacht, nicht vorherbestimmt. Denn als sol-
cher würde er eines Tages sich sagen müssen „hole der Teufel meinen guten Ge-
schmack! aber die Regel ist interessanter als die Ausnahme, — als ich, die Aus-
nahme!“ — und würde sich hinab begeben, vor Allem „hinein“.] Dass „Ekel“,
„Mitleid“ und andere negative Empfindungen das Gefühlsleben des „auserlese-
nen Menschen“ bestimmen, wenn er mit so viel Mittelmaß und Gemeinheit
konfrontiert wird, die vorgeblich das Gewöhnlich-Menschliche ausmachen,
überrascht nicht (diese Konstellation hat z. B. auch Bourget 1883,103 beschrie-
ben) - zumal vor dem Hintergrund der N. wohlbekannten misanthropischen
Moralistik von La Rochefoucauld und Pascal bis Schopenhauer. Das Motiv
kehrt im Modus der Selbstapplikation in EH Warum ich so weise bin 8 wieder,
wo das dort sprechende, seine eigene Weisheitsgenealogie erzählende Ich
ebenfalls im „Verkehr mit Menschen“ von Ekel und Mitgefühl angefochten
wird, vgl. NK KSA 6, 276, 2-6.
Eher überraschend ist hingegen, dass in MA II VM 333 dieser „Verkehr mit
Menschen“ ausdrücklich als „Genuss“ markiert wird, und zwar ausgerech-
net für denjenigen, der sich „absichtlich in der Einsamkeit“ halte: Zum „Le-
ckerbissen“ kann ihm dieser „Verkehr“ allerdings nur werden, wenn er „selten
genossen“ wird (KSA 2, 516,1-4). Selbst wenn man JGB 26 als eine auf weiteren
 
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