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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0251
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Stellenkommentar JGB 26, KSA 5, S. 44 231

Jahren mit negativer Lebenserfahrung beruhende Kontrafaktur zu diesem
Aphorismus liest, bleibt das Erstaunen bei der Lektüre von Briefen aus dem
zeitlichen Umfeld von JGB bestehen. Seine Schwester ließ N. Ende Juli 1885
wissen, dass er seinen „Verkehr mit Menschen rein als Kur und gelegentliche
Medizin zu nehmen habe, vor Allem als Erholung“ (KSB 7/KGB III/3, Nr. 615,
S. 73, Z. 20 f.). Franz Overbeck schrieb er am 25. 03.1886: „ich selber sage
mir, daß ich den ganzen Winter profondement triste, torturirt von meinen
Problemen bei Tag und Nacht, eigentlich noch mehr höllenmäßig als höhlen-
mäßig gelebt habe — und daß ich den gelegentlichen Verkehr mit Menschen
wie ein Fest, wie eine Erlösung von ,mir‘ fühle.“ (KSB 7/KGB III/3, Nr. 678,
5. 161 f., Z. 19-23) Die Einsamkeit muss also für das geistige Ausnahmetalent
keineswegs notwendig Glück bedeuten, sondern kann auch Qual sein - eben-
so, wie die Wirkung des „Verkehrs mit Menschen“ sehr unterschiedlich aus-
fällt. Da N. weder in MA II VM 333 noch in den Briefen ausdrücklich dem Kon-
takt mit Durchschnittsmenschen Erholungs- oder Genussträchtigkeit zu-
schrieb, muss auch kein Interpret auf einem kontradiktorischen Widerspruch
dieser Äußerungen zu JGB 26 beharren.
44, 20-32 Hat er aber Glück, wie es einem Glückskinde der Erkenntniss geziemt,
so begegnet er eigentlichen Abkürzern und Erleichterern seiner Aufgabe, — ich
meine sogenannten Cynikern, also Solchen, welche das Thier, die Gemeinheit, die
„Regel“ an sich einfach anerkennen und dabei noch jenen Grad von Geistigkeit
und Kitzel haben, um über sich und ihres Gleichen vor Zeugen reden zu müs-
sen: — mitunter wälzen sie sich sogar in Büchern wie auf ihrem eignen Miste.
Cynismus ist die einzige Form, in welcher gemeine Seelen an Das streifen, was
Redlichkeit ist; und der höhere Mensch hat bei jedem gröberen und feineren Cy-
nismus die Ohren aufzumachen und sich jedes Mal Glück zu wünschen, wenn
gerade vor ihm der Possenreisser ohne Scham oder der wissenschaftliche Satyr
laut werden.] Die zu N.s Zeit übliche Schreibweise „Cyniker“ konnte einerseits
die sokratische Schule der Kyniker bezeichnen, die N. aus der Lektüre des
6. Buches von Diogenes Laertius bestens bekannt war. Für sie war Bedürfnislo-
sigkeit ebenso charakteristisch wie „hündische“ Schamlosigkeit (ihr Name
wird mit kvgjv, „Hund“ in Verbindung gebracht). Andererseits bezeichnete der
Ausdruck „Cyniker“ auch allgemein „cynische“ Menschen, solche, die „scham-
los“ sind, „Sitte und Anstand verachtend“ (Meyer 1885-1892, 4, 384). N. selbst
benutzte „Cynismus“ in unterschiedlichen Bedeutungsschattierungen, die von
Unrecht und Bosheit bis hin zu distanzierter Ironie reichen. Während N. in EH
Warum ich so gute Bücher schreibe 3 seinen eigenen Büchern „Cynismus“ als
höchstes Geschmacksprädikat zuschreiben sollte (vgl. NK KSA 6, 302, 26-30),
erscheinen in JGB 26 Bücher von Cynikern nicht als direkte Denk- und Schreib-
vorlagen „auserlesener Menschen“, sondern als deren Hilfsmittel zu einer
 
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