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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0252
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232 Jenseits von Gut und Böse

schnellen und schonungslosen Orientierung in der gewöhnlichen Menschen-
welt. Die Cyniker nehmen kein Blatt vor den Mund und sind damit verlässliche
Gewährsleute, weil sie nichts beschönigen, sondern den Menschen in seiner
animalischen Erbärmlichkeit vor Augen stellen. Ihr Mittel ist das der abkürzen-
den Anekdoten, wie sie exemplarisch vom bekanntesten antiken Kyniker Dio-
genes von Sinope überliefert sind (Diogenes Laertius VI 20-81), sowie die Sati-
re (nach GD Was ich den Alten verdanke 2 hat ein Kyniker die satura erfunden,
siehe NK KSA 6, 155, 21-24). Dazu ausführlich Niehues-Pröbsting 1980 u. 1988,
ferner Niehues-Pröbsting 2005.
44, 32-45, 4 Es giebt sogar Fälle, wo zum Ekel sich die Bezauberung mischt: da
nämlich, wo an einen solchen indiskreten Bock und Affen, durch eine Laune der
Natur, das Genie gebunden ist, wie bei dem Abbe Galiani, dem tiefsten, scharf-
sichtigsten und vielleicht auch schmutzigsten Menschen seines Jahrhunderts —
er war viel tiefer als Voltaire und folglich auch ein gut Theil schweigsamer.] Aus-
gerechnet Mutter und Schwester schrieb N. am 14. 03.1885: „Es lebt übrigens
jetzt Niemand, an dem mir viel gelegen wäre; die Menschen, die ich gerne
habe, sind lange, lange todt, z. B. der Abbe Galiani oder Henri Beyle oder Mon-
taigne.“ (KSB 7/KGB III/3, Nr. 581, S. 22 f., Z. 36-39) Auch wenn das Jahr 1885 -
mit drei brieflichen Erwähnungen allein im März und einem Dutzend Stellen
im Nachlass - den Höhepunkt von N.s Begeisterung für den neapolitanischen
Aufklärer, Ökonom und Philosophen Ferdinando Galiani (1728-1787) markiert,
die auch 1887 und 1888 kaum abebbt, findet sich die erste Spur seiner Beschäf-
tigung bereits in NL 1884, KSA 11, 26[242], 212, 6. N. hat allerdings nicht seine
Werke gelesen (zu denen u. a. die noch von Marx eingehend rezipierte Jugend-
schrift Della Moneta von 1751 oder die Dialogues sur le commerce des bles von
1769 gehören), sondern seine zwischen Frivolität, Tiefsinn, Frechheit und Emp-
findsamkeit oszillierenden Briefe an die französischen philosophes, denen er
durch einen jahrelangen Paris-Aufenthalt persönlich tief verbunden war, na-
mentlich an Madame d’Epinay: „il pense trop haut et parle trop bas“, lautet
eine Bemerkung von Madame Necker über Galiani, weshalb dieser bei Hofe
nicht reüssiert habe („er denkt zu hoch und spricht zu niedrig“ - Galiani 1882,
1, XXXIII, von N. am Rand doppelt angestrichen). Die in N.s Bibliothek erhalte-
ne, zweibändige Brief-Ausgabe weist außerordentlich zahlreiche Lesespuren
auf. Näher bekannt geworden sein dürfte N. die eigentümliche Gestalt Galianis
schon durch die Lektüre von Sainte-Beuves Causeries du lundi zusammen mit
Franz und Ida Overbeck (vgl. Bernoulli 1908, 1, 237). Das Galianis Originalität
scharf herausstellende Porträt findet sich im zweiten Band der Causeries (Sainte-
Beuve o. J., 2, 421-442), aus dem Ida Overbeck für ihre von N. angeregte Sainte-
Beuve-Übersetzung (Sainte-Beuve 1880 u. Sainte-Beuve 2014) mehrere (aller-
dings andere) Kapitel auswählte. Daraus ist leicht zu erschließen, dass gerade
 
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