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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0263
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Stellenkommentar JGB 29, KSA 5, S. 47-48 243

47, 23 petit fait] Französisch: „kleine Tatsache“. Das Interesse an „petits faits“
auf Kosten des Ganzen galt N. in der decadence-Analyse als zeittypisch. Bei
Bourget strich er sich beispielsweise eine Passage am Rand an, die über den
„roman de constatation“, den rein konstatierenden Roman spricht, der ein Ro-
man der „petits faits“ sei (Bourget 1886, 161). Marc Sautet in Nietzsche 1991,
62 sieht im „petit fait“ von 47, 23 auch eine Anspielung auf Hippolyte Taine.
Vgl. NK KSA 6, 115, 28-31 u. NK KSA 6, 28, 2.

29.
47, 29-48, 1 Es ist die Sache der Wenigsten, unabhängig zu sein: — es ist ein
Vorrecht der Starken. Und wer es versucht, auch mit dem besten Rechte dazu,
aber ohne es zu müssen, beweist damit, dass er wahrscheinlich nicht nur
stark, sondern bis zur Ausgelassenheit verwegen ist] „Dies Buch gehört den We-
nigsten“, heißt es am Anfang des Antichrist (KSA 6, 167, 2) - eines Buch, das
als „Umwerthung aller Werthe“ gerade äußerste Unabhängigkeit demonstrie-
ren will. JGB 29 treibt den Gedanken einer Interdependenz von Stärke und Un-
abhängigkeit bis ins Extrem, wenn durch Sperrung hervorgehoben wird, dass
der nicht bloß Starke, „sondern bis zur Ausgelassenheit“ Verwegene eben nicht
unabhängig sein muss: Äußerste Stärke bestünde darin, dass man sogar auf
Unabhängigkeit verzichten kann, weil man eben so stark ist, dass einem nichts
mehr zu nötigen vermag, nicht einmal ein Bedürfnis nach Unabhängigkeit.
Freiheitsdrang gilt mithin als Kennzeichen der Sklavenmoral, siehe NK 212,12-
17.
48,1-6 Er begiebt sich in ein Labyrinth, er vertausendfältigt die Gefahren, wel-
che das Leben an sich schon mit sich bringt; von denen es nicht die kleinste ist,
dass Keiner mit Augen sieht, wie und wo er sich verirrt, vereinsamt und stückwei-
se von irgend einem Höhlen-Minotaurus des Gewissens zerrissen wird.] Im grie-
chischen Mythos hat König Minos von Kreta den Minotauros, ein Mischwesen
aus Stier und Mensch, in ein Labyrinth einsperren lassen. Aus Athen mussten
jedes Jahr sieben Knaben und sieben Mädchen zur Fütterung des Ungeheuers
herbeigeschaft werden, bis endlich Theseus mit Hilfe des Fadens von Minos’
Tochter Ariadne sich im Labyrinth zurechtfinden und den Minotauros töten
konnte. In N.s letzten Schriften ist der Labyrinth-Theseus-Ariadne-Mythenkom-
plex stark präsent (vgl. NK 239, 2-6); die „moderne Seele“ kann ebenso als ein
vom Philosophen zu erkundendes „Labyrinth“ erscheinen (vgl. NK KSA 6, 12,
23-25, ferner NK 151,16-18) wie Richard Wagner als „Minotaurus“ (vgl. NK KSA
6, 45, 2-7). „Vorherbestimmung zum Labyrinth“ wird im Vorwort zum Antichrist
als ideale Leserqualifikation festgehalten (vgl. NK KSA 6, 167, 16 f.), während
 
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