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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0266
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246 Jenseits von Gut und Böse

Während die Vorstufe gleich mit dem „Verbrechen“ ins Haus fällt, bringt
die Druckfassung eine scheinbare Milderung, die durch den Anschluss an die
Tradition bewerkstelligt wird, nämlich einerseits an die des Idioten, des Toren
als philosophischer Gestalt (vgl. Sommer 2010d) und andererseits an die neu-
testamentliche Tradition der Torheit als eigentlich höchster Weisheit, wie Pau-
lus sie verbrieft hat: „Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo
sind die Weltweisen? Hat nicht GOtt die Weisheit dieser Welt zur Thorheit ge-
macht? Denn dieweil die Welt durch ihre Weisheit GOtt in seiner Weisheit nicht
erkannte, gefiel es GOtt wohl, durch thörichte Predigt selig zu machen die, so
daran glauben.“ (1. Korinther 1, 20 f. Die Bibel: Neues Testament 1818, 197 f.)
N. münzt diese beiden Motivstränge der abendländischen Geistesgeschichte zu
eigenen Zwecken um.
48,14-22 Das Exoterische und das Esoterische, wie man ehedem unter Philoso-
phen unterschied, bei Indern, wie bei Griechen, Persern und Muselmännern, kurz
überall, wo man eine Rangordnung und nicht an Gleichheit und gleiche Rechte
glaubte, — das hebt sich nicht sowohl dadurch von einander ab, dass der Exoteri-
ker draussen steht und von aussen her, nicht von innen her, sieht, schätzt, misst,
urtheilt: das Wesentlichere ist, dass er von Unten hinauf die Dinge sieht, — der
Esoteriker aber von Oben herab!] Für N.-Interpreten, die sich an Leo
Strauss orientieren, besitzt dieses scheinbare Bekenntnis zu einer prinzipiellen
Unterscheidung zwischen einem esoterischen und einem exoterischen Stand-
punkt eine erhebliche Verführungskraft (vgl. Lampert 2001, 71-75), obwohl
Strauss in seinem kurzen Aufsatz gar nicht auf diesen Abschnitt einging - was
wiederum Bestandteil seiner eigenen esoterischen Strategie gewesen sein
könnte (Strauss 1983).
Wie es sich für einen angeblich esoterischen Autor gehört, bediente sich
N. selbst nur selten der expliziten Unterscheidung von Esoterischem und Exo-
terischem. In frühen Notizen handelte er etwa von der Demokratisierung des
Christentums, als es „Weltreligion“ geworden sei, um dabei „alles Vertiefte,
Esoterische“ auszulöschen (NL 1869/70, KSA 7, 2[1],45, 2f.), oder von Goethes
Auffassung, dass die Wissenschaften esoterisch seien (NL 1873, KSA 7, 29 [84],
666,12 f.), während er am 06. 04.1872 gegenüber seinem über GT wenig erbau-
ten Lehrer Friedrich Ritschi anführte - und das war ein unverhohlener Af-
front -, dass es „für Philologen einige Jahrzehnte Zeit hat, ehe sie ein so esote-
risches und im höchsten Sinne wissenschaftliches Buch verstehen können“
(KSB 3/KGB II/l, Nr. 206, S. 304, Z. 43-45). Den Gegensatz „esoterisch“/„exote-
risch“ rufen spätere Nachlasstexte auf (NL 1886/87, KSA 12, 5 [9], 187, 11 = KGW
IX 3, N VII3,179, 2), gelegentlich unter direkter Bezugnahme auf Platon (AC 23,
vgl. NK KSA 6, 190, 5-13 u. NK KSA 6, 190, 13 sowie NL 1888, KSA 13, 14[191],
378,18 f. = entspricht KGW IX 8, WII5,19, 44). Auch in JGB 30 wirkt wie AC 23
 
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