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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0270
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250 Jenseits von Gut und Böse

gewesen sei. In diesem Übergange nimmt man Rache an sich, durch Mißtrau-
en; man ist auf der Hut vor den seinen ^schönen ''begeisterten'' Gefühlen- — ja
,das gute Gewissen4 selber erscheint Einem ''schon'' wie eine Gefahr, wie eine
verschleiernde Tartüfferie der Selbstverherrlichung rSelbst=Verschleierung
und Ermüdung der eigenen Redlichkeit''. Noch ''Wieder'' ein Jahrzehend später:
und man begreift, daß auch dies rAlles"' noch — Jugend war. -“ (NL 1885, KSA
11, 41[2]1, 669,18-670,19, hier nach KGW IX 4, W I 5, 46, 2-26 u. 47,1). Es wird
aus dieser Aufzeichnung klar, dass der dann in JGB 31 zur Sprache kommende
jugendliche Hang, „Menschen und Dinge mit Ja und Nein überfallen zu haben“
(49, 16 f.), auf N.s eigene Frühschriften, insbesondere auf die Unzeitgemässen
Betrachtungen bezogen werden kann, namentlich auf die dort überschwäng-
lich bejubelten Geisteshelden Arthur Schopenhauer und Richard Wagner und
die rigoros verdammten Geistesschufte David Friedrich Strauss und Eduard
von Hartmann. „Jugend ist an sich schon etwas Fälschendes und Betrügeri-
sches“ (49, 25 f.). Die Phase der „Argwöhne und Gewissensbisse“ (49, 29), in
der sich das Misstrauen gegen die eigenen, früheren Werturteile und gegen
das eigene frühere Gefühl richtet, korrespondiert wiederum deutlich mit N.s
sogenannter Freigeistphase, die mit MA sich zu manifestieren begann - als
„Rache für ihre lange Selbst-Verblendung“ (49, 31). Schließlich stellt sich ein
weiteres „Jahrzehend später“ (50, 6) auch diese Selbstkritik und Jugend-Kritik
als jugendlicher Überschwang dar - womit der Sprechende den traditionellen
philosophischen Gestus der Altersweisheit mimt.
Wenn JGB 31 gegen die Schwarz-Weiß-Malerei der Jugend für eine „Kunst
der Nuance“ (49, 15) eintritt, wird damit ein Gegensatz zum scheinbaren Be-
kenntnis für eine neue esoterische Philosophie in JGB 30 wirksam zur Anschau-
ung gebracht. Esoterik/Exoterik als schroffe Dichotomie (»entweder eingeweiht
oder uneingeweiht4) steht zu einer solchen Kunst der Abstufung, die sich allem
vorschnell „Unbedingte[n]44 (49, 19) versagt, in starker Spannung. JGB 31 lässt
sich als geschickt platzierte Relativierung der in JGB 30 formulierten Unbe-
dingtheitsansprüche einer erneuerten philosophischen Esoterik verstehen -
JGB 30 erscheint gewissermaßen aus blindem jugendlichem Überschwang ge-
boren, der N.s verblichene Lieblingsidee einer freigeistigen Klostergemein-
schaft in Erinnerung ruft (dazu Treiber 1992).
49, 14-16 jene Kunst der Nuance, welche den besten Gewinn des Lebens aus-
macht] In den Schriften von 1888 sollte N. für sich eine Meisterschaft in der
Nuancierung in Anspruch nehmen (NK KSA 6, 265, 34-266, 1), ja behaupten,
selbst eine Nuance zu sein (EH WA 4, KSA 6, 362, 28). Das Nuancieren-Können,
die unendlich feine Abstufung und Abschattung von Unterschieden galt ihm
dann vor dem Hintergrund von JGB 31 als Inbegriff eines reifen Philosophie-
 
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