Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0285
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar JGB 34, KSA 5, S. 52 265

der Rekapitulation von Friedrich Albert Langes Einsicht, dass „das wahre We-
sen der Dinge, das Ding an sich, [...] uns nicht nur unbekannt“ sei, „sondern
es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte
Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir
nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung irgend eine Bedeutung hat“
(KSB 2/KGB 1/2, Nr. 517, S. 160, Z. 39-44). Von dieser erkenntniskritischen Per-
spektive rückte N. ab, als er in GT 9, KSA 1, 69, 34 mutmaßte, dass im „Wesen
der Dinge“ ,,[d]as Unheil“ lauere - eine Überzeugung, die sich auch bei Scho-
penhauer findet, dem ,,[d]as Leben“ selbst bei dieser Gelegenheit als „fortge-
setzter Betrug“ erscheint (Schopenhauer 1873-1874, 3, 657). In seiner emanzi-
patorisch-freigeistigen Phase nahmen N.s Überlegungen eine Wendung, die 52,
16-22 präludiert: „Die Unwahrheit muß aus dem »eigenen wahren Wesen4 der
Dinge ableitbar sein: das Zerfallen in Subjekt und Objekt muß dem wirklichen
Sachverhalt entsprechen. Nicht die Erkenntniß gehört zum Wesen der Dinge,
sondern der Irrthum.“ (NL1881, KSA 9,11[321], 566,19-22) Hier mag die Lektüre
von Afrikan Spirs Denken und Wirklichkeit nachwirken, der mit dem „unbe-
dingten Wesen der Dinge“ einen inflationären Umgang pflegte (vgl. z. B. Spir
1877, 1, 158-162; 188 f.; 198; 224; 278; 290f.; 378-386). Wenn Spir argumentiert,
dass „das eigne Wesen der Dinge [...] nothwendig unbedingt“ sei, „denn das
Unbedingte ist eben dasjenige, was keine fremden Gründe seines Daseins hat“
(ebd., 158), und weiter folgert: „Ist aber alle Veränderung dem unbedingten
Wesen der Dinge fremd, so bedeutet dies offenbar, das alle Veränderung b e -
dingt ist“ (ebd., 256. N.s Unterstreichungen). Demgegenüber stellt N.s zitierte
Aufzeichnung Spirs Prämissen auf den Kopf, indem sie das „Wesen des esse“
mit „allgemeinem Bedingtsein“ assoziiert: „Der Glaube an das Unbedingte
muß ableitbar aus dem Wesen des esse, aus dem allgemeinen Bedingtsein
sein!“ (NL 1881, KSA 9, 11[321], 566, 22-24, vgl. ebenfalls in Abgrenzung von
Spir 1877 NL 1881, KSA 9, 11[329], 569). In NL 1885, KSA 11, 40[20], 638, 2-7
(entspricht KGW IX 4, W I 7, 68, 48-69, 8) wird die Hypothese von der Ur-
Irrtümlichkeit mit Descartes abgeglichen: „Gesetzt, es gäbe im Wesen der Din-
ge etwas Täuschendes Närrisches etwas Betrügerisches, so würde der allerbes-
te Wille de omnibus dubitare, nach Art des Cartesius, uns nicht vor den Fall-
stricken dieses Wesens hüten; und gerade jenes Cartesische Mittel könnte ein
Hauptkunstgriff sein, uns gründlich zu foppen und für Narren zu halten.“
52, 22-30 Wer aber unser Denken selbst, also „den Geist“ für die Falschheit der
Welt verantwortlich macht — ein ehrenhafter Ausweg, den jeder bewusste oder
unbewusste advocatus dei geht wer diese Welt, sammt Raum, Zeit, Gestalt,
Bewegung, als falsch erschlossen nimmt: ein Solcher hätte mindestens guten
Anlass, gegen alles Denken selbst endlich Misstrauen zu lernen: hätte es uns
nicht bisher den allergrössten Schabernack gespielt? und welche Bürgschaft da-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften