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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0284
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264 Jenseits von Gut und Böse

der sich grundlegend von den gewissheitssüchtigen Kollegen unterscheidet
(vgl. zum Misstrauen in JGB 34 auch Mirabile 2004, 253). Dieses Misstrauen
steuert auf die Einsicht zu, dass es wiederum ein „moralisches Vorurtheil“, das
heißt: der Ausdruck einer spezifischen Lebenspräferenz sei, „dass Wahrheit
mehr werth ist als Schein“ (53, 24 f.). Das Scheinbare zugunsten des Wahren
abschaffen zu wollen, erscheint damit als geradezu wahnhafte Hybris jener
herkömmlichen Philosophen, die noch in binären Oppositionen befangen
sind - ein Gedanke, den GD Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde,
KSA 6, 80 f. fabelhaft zuspitzen wird. „Stufen der Scheinbarkeit“ (53, 33) an-
stelle eines Dualismus von „wahr“ und „falsch“ (53, 32), Abschattungen statt
Schwarz-Weiß und Entweder-Oder? Einher geht das mit einer Aufwertung der
Fiktion und der Irreduzibilität des Perspektivischen: „Warum dürfte die Welt,
die uns etwas angeht —, nicht eine Fiktion sein?“ (54, 2f.). JGB 34 läuft
aus in eine Sprachkritik, die „Subjekt“, „Objekt“ und „Prädikat“ (54, 6f.) nicht
mehr als letzte Gegebenheiten der Wirklichkeit, sondern nur noch der (indo-
germanischen) Sprache anerkennt. Zwar könne das Denken die Zwänge der
Sprache nicht transzendieren, aber doch - selbst sprachlich - ironisieren. Iro-
nisches Misstrauen hilft dem (neuen) Philosophen, sich „über die Gläubigkeit
an die Grammatik“ zu „erheben“ (54, 8f.).
In seiner eindringlichen Analyse von JGB 34 hebt Tongeren 1989, 110-115
N.s Spiel mit ,,Ernst[.]“ (52, 30), „Scherz“ (53, 17) und Ironie hervor. Überdies
machte er auf den exzessiven Gebrauch von Gedankenstrichen aufmerksam
(auch schon in JGB 33), die den Abschnitt nicht nur rhythmisch gestalten, son-
dern auch Gedankenansätze immer wieder abbrechen und dem Leser seine ei-
genen Schlussfolgerungen abnötigen (vgl. auch Tongeren 2010, 623 gegen die
Missachtung der Gedankenstriche bei Lampert 2001; zu JGB 34 insgesamt auch
Wotling 2008, 8 f.).
Schwerwiegend ist, wird man ergänzen, die Standortgebundenheit, damit
die Perspektivität jedes Urteils, die gleich in der Eingangsexposition über die
Standpunkte gegenwärtigen philosophischen Denkens namhaft gemacht wird.
Ein eigentliches Perspektivitäts-Apriori - das „Sicherste und Festeste“? - for-
muliert gegen Ende die Sentenz: „es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf
dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten“ (53, 25-27).
52,16-22 Auf welchen Standpunkt der Philosophie man sich heute auch stellen
mag: von jeder Stelle aus gesehn ist die Irrthümlichkeit der Welt, in der wir
zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser Auge noch habhaft
werden kann: — wir finden Gründe über Gründe dafür, die uns zu Muthmaassun-
gen über ein betrügerisches Princip im „Wesen der Dinge“ verlocken möchten.]
Dem „Wesen der Dinge“ heftete sich bereits der Student N. auf die Fersen,
beispielsweise in seinem Brief an Carl von Gersdorff von Ende August 1866 bei
 
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